Christopher Wurmdobler – Felix Austria

»Ich mag nicht, dass über uns Warme immer nur Trauergeschichten erzählt werden«, schluchzte der Franzi. »Ich hatte nie Schuldgefühle oder gar Minderwertigkeitskomplexe. Warum denn? Wenn dich wer fragt, dann erzähl vom lustigen Franzi, hörst du? Erzähl vom frechen Franzi, der das Leben und die Liebe feiert. Aber erzähl auch deine Geschichte, Felix. Solange wir unsere Geschichten erzählen, sind wir am Leben.«

Felix Austria‘, der neuste Roman von Christopher Wurmdobler, erzählt die Geschichte eines unwahrscheinlichen Helden, der angetrieben vom Fernweh auszieht, um der Enge von Stadlau zu entkommen, diesem angehängten Dorf am Arsch der großen Wienerstadt – und der in der Weite Amerikas Abenteuer, die Liebe und eine Wahlfamilie jenseits aller Konventionen findet.

1937: Mit gerade einmal 17 Jahren packt Felix seine Siebensachen, reist in Gepäcknetzen von Wien nach Hamburg, lässt sich auf einem Schiff anheuern und landet nach der Überquerung des atlantischen Ozeans über Umwege am Ende der Welt: im World’s End, einem Zirkus, der gerade in Kalifornien Halt macht. Hier lernt er den starken Jack kennen und ergreift seine Hand mit dem Versprechen, sie nie wieder loszulassen. Er lernt nicht nur die (freie) Liebe kennen, sondern eine ganz neue Art zu leben, frei von Hierarchien und den Vorurteilen der restlichen Welt (dafür aber mit Kommunismus, das muss aber wirklich sonst niemand wissen).

Der Zirkus ist eine eigene Parallelwelt, Wurmdobler erzählt über diesen märchenhaften Ort von Wahlfamilien, von einer anderen Art des Liebens, die keinerlei Scham kennt: „Im World’s End gab es Paare, die fast wie Katholiken zusammenlebten, sich den lieben langen Tag nicht aus den Augen verloren. Es gab den Schneider mit seinem Kater, Familien mit Kindern oder Leute wie Heidi, die sich selbst genug waren. Marie die Schlangenfrau hatte eines Tages eine zweite Schlangenfrau an ihrer Seite, Kerle lebten mit Kerlen, und der Direktor schien in jeder Ortschaft, in der sie Station machten, eine andere Braut zu haben. Wie bei den Matrosen. Und es gab halt auch Jack und Felix, die einander die größte Freiheit gaben, miteinander schliefen, wenn sie – eigentlich vor allem Jack – Lust darauf hatten, sich manchmal aber auch tagelang nicht trafen“.

Felix Austria‘ ist eine bunte Mischung aus Märchen, Abenteuergeschichte und historischem Roman, einem wilden Mix, den der Text auch auf formaler Ebene vereint, indem er auf sehr klassische Art und Weise seinen Erzähler mit einem Kamerablick auf das Geschehen blicken und es kommentieren lässt – so wie auch Felix in seiner Rolle als Zirkusakrobat von den Höhen des Zirkuszelts das Publikum und später als Oberbeleuchter von den Stahlträgern der Filmsets die Schauspieler*innen beobachtet.

Unser Held Felix ist ein sorgloser Typ, jemand, der es vollbringt, alle mit seinem Lächeln, diesem unnatürlich breiten Grinsen, bei dem er alle seine Zähne zeigt, für sich einzunehmen – oder um es wie die Amerikaner zu sagen: Er ist ein happy-go-lucky-Typ. Felix ist jung, naiv, unschuldig, er lebt im Zirkus quasi in einer Parallelwelt fern von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und der Gräueltaten der Nationalsozialisten.

Diese Perspektive erlaubt es Wurmdobler, einen Teil queerer Geschichte erzählen, ohne die Opfer, wie sonst gerne üblich, einmal durch die Manege zu treiben, damit sich das Publikum in Angesicht von so viel Leid und Elend ergriffen fühlen und die Vorstellung mit dem wohligen Gefühl verlassen kann, dass man zum Glück nicht selbst betroffen ist. ‚Felix Austria‘ spart deswegen diesen Teil der Geschichte deswegen aber nicht aus oder geht gar darüber hinweg.

Der Roman beschreibt auch das Nachkriegswien, den Unwillen und das Desinteresse der Menschen, über den Krieg und die dort stattgefundenen Verbrechen zu reden oder diese aufzuarbeiten. Man ist mehr an der Illusion einer heilen Welt interessiert, an Reinheit, Sauberkeit und Anstand. In diesem Nachkriegsmief trifft Felix aber auch auf Menschen, die ihm ihre Geschichten anvertrauen, die aber trotz allem eines wollen: Das Leben. ‚Felix Austria‘ von Christopher Wurmdobler ist ein erstaunlicher Text, weil er sich noch traut, voller Erstaunen von dieser Welt zu berichten, etwas, was unserem gegenwärtigen Anspruch an ‚Realität‘ zuwiderläuft und gut und gerne als Kitsch verschrien wird. In diesem Roman funktioniert es aber, weil hier jemand eine Geschichte voller Selbstbewusstsein erzählt, weil hier jemand seine Stimme und sein Sujet gefunden hat.

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