Joan Nestle – Begehren und Widerstand

Joan Nestle - Begehren und Widerstand

Doch ich hatte meine Lektion gelernt und behielt meine Berührungen ganz bei mir. Solidarität währt nicht ewig; sie zerbricht am Felsen der Differenz, an der Angst vor Exil. Doch Leidenschaft brennt sich in das Gedächtnis ein, behält sich ein inneres Leben vor, harrt aus, wartet darauf, zurückgewonnen zu werden.

Begehren und Widerstand‘ von Joan Nestle (aus dem Amerikanischen von Johanna Davids, Desz Debreceni, Sabine Fuchs, Anna Kuntze und Bettina Wind) ist die erste Sammlung, welche die Texte der Autorin und Aktivistin einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Treffender könnte der Titel dieses Readers nicht sein, denn, was die Kurzgeschichten und Essays eint, sind die Schnittpunkte von Widerstand und Begehren und wie diese sich oft gegenseitig bedingen.

Joan Nestle (1940-) ist eine jüdische lesbische Fem der Arbeiter*innenklasse. Diese Perspektive durchdringt alle ihre Texte, die – auch wenn hier von Kurzgeschichten und Essays die Rede ist – sich einer einheitlichen Kategorie entziehen, sind sie doch alle zugleich autobiographisch, politisch und akademisch. Nestle schreibt über ihre Mutter (hier mit einen der besten und schönsten Mutter-Tochter-Texte vertreten, den ich je gelesen habe), über jüdisches Leben in den USA, die Bürgerrechtsbewegung, Fem-Butch-Beziehungen, lesbisch-feministische Bündnisse und Archivarbeit und lesbisches Begehren – erotische Texte, die das Korsett der Pornographie mühelos sprengen, weil sie zugleich auch vom Politikum der Macht, der Körperlichkeit und des Geschlechts berichten.

Diese Texte müssen auch im Kontext der sogenannten Sex Wars gelesen werden, denn Nestles erotische Texte sind auch ein Aufbegehren gegen die im Zuge des Second Wave Feminism der 70er Jahre aufkommenden Vorurteile gegenüber Fem-Butch-Beziehungen, Dynamiken, die – so die Kritik ihrer Feinde – heterosexuelle Machtdynamiken imitieren. Doch Nestles Texte zeigen, dass sich ihr Begehren nicht so einfach greifen lässt: „Auch wenn ich seit mehr als zwanzig Jahren eine Lesbe bin und die Welt durch die Linse des Feminismus betrachte, durchläuft mich beim Anblick einer Butch jedes Mal, selbst aus zehn Metern Entfernung, ihre Macht wie ein Schauer. Entgegen der weit verbreiteten Meinung erkauft sie sich diese Macht nicht auf Kosten der Identität der Fem. Butch-Fem-Beziehungen, wie ich sie erlebt habe, waren komplexe erotische Statements, kein billiger Abklatsch einer Heterobeziehung. Sie strotzten von einer zutiefst lesbischen Sprache, was Haltung, Kleidung, Lieben, Mut und Unabhängigkeit anging.

Ihre Texte zeigen aber auch, wie leichtfertig im Zuge der Liberalisierungsversuche jene ausgeschlossen werden, die innerhalb der heterosexuellen Matrix als nicht respektabel gelten – und dass wir alle nur verlieren können, wenn wir uns der Versuchung und dem Irrglauben hingeben, wir könnten unsere Rechte stärken, wenn wir die Schwächsten einer Community opfern.

In mehrerlei Hinsicht ist ‚Begehren und Widerstand‘ Beweis dafür, wie wichtig Archivarbeit ist. Zum einem ist Joan Nestle Mitbegründerin der Lesbian Herstory Archives in New York, aus denen sie hier auch Geschichten erzählt, zum anderen haben die Verleger*innen und Herausgeber*innen mit diesem Sammelband uns Leser*innen ein überaus lebendiges Archiv zur Verfügung gestellt, aus dessen Tiefen wir schöpfen und lernen können.

Joan Nestles Texte machen gelebte queere Geschichte erfahrbar. Wie man es auch betrachten möchte – dass queere Geschichte parallel zu dem verläuft, was wir gemeinhin als Weltgeschichte bezeichnen, oder dass queere Geschichte ein zentraler Bestandteil ist, im Herzen dieser Weltgeschichte stattfindet – hier erhalten wir eine neue, zusätzliche Perspektive, die fern von Kitsch und Klischees von einer klassenlosen und kriegsfreien Welt träumt.

Begehren und Widerstand‘ ist sexy, klug und ja, auch wichtig. Es ist eines dieser vor Lebendigkeit sprühenden Werke, weil Nestle uns so viel über die Vergangenheit aus ihrer individuellen Perspektive, aus der gelebten Erfahrung heraus, zeigt, aber ihre Lust am Austausch, selbst dazuzulernen, jederzeit evident ist: „Wir sollten Geschichte nicht dazu nutzen, das Neue zu unterdrücken oder das Alte zu institutionalisieren, sondern sie als Quelle für Ideen, Visionen, Taktiken jederzeit zu uns sprechen lassen.“ Und auch das macht ihre Texte in Zeiten, in denen die Rechte von queeren und trans Personen immer weiter eingeschränkt werden, Widerstand also wichtiger denn je ist, so unglaublich lesenswert.

Zur Inszenierung: Zu sehen ist eine Fotografie von Mohamad Abdouni aus ‚New Queer Photography‘, herausgegeben von Benjamin Wolbergs.

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