2. Was ist ’schwule Literatur‘? – 2.3.2 Queering the Canon: Der Text als Beweis

Queering the Canon - Der Text als Beweis

Neben diesen Neuinterpretationen gibt es auch Versuche, kanonische Autoren queer zu lesen, deren Biographien nicht belegen, dass sie homoerotische Gefühle hegten. Es handelt sich um Texte, die sich für eine queere oder auch schwule Leseart eignen. Zwei Autoren, die typischerweise in diesem Zusammenhang genannt werden, sind William Shakespeare und Franz Kafka.

Trotz des sehr umfangreichen Werks von Shakespeare sind die „Quellen über sein Leben [karg]“[1]. Aus diesem Grund ist Shakespeare „zur Kulturmacht geworden, zum Ausgangspunkt einer internationalen Shakespeare-Industrie.“[2] Vielleicht auch gerade deswegen wird von Shakespeares Texten erwartet, dass sie dem Zweck verschiedenster Interessen dienen sollen.[3] Doch aus welchem Grund soll nun Shakespeare Teil der schwulen Literatur sein?

Jürgen Klein weist darauf hin, dass aufgrund gesellschaftlicher Konventionen, im elisabethanischen Theater alle Rollen, einschließlich der Frauenfiguren, von Männern gespielt wurden und Shakespeare dementsprechend an ein Umfeld gewohnt war, in dem Gender-Rollen „nicht statisch“[4] dargestellt wurden. „Heterosexuelle Bühnenintimitäten waren de facto homosexuelle Berührungen.“[5] Im Zentrum des Interesses stehen für gewöhnlich jedoch nicht Shakespeares Theaterstückes, sondern seine Sonette. Die ersten 126 sind einem jungen Mann gewidmet, die restlichen 28 richten sich an die sogenannte „Dark Lady“.[6] Die Sonette sind entweder als leidenschaftlicher Ausdruck von Liebe oder als Imitation von solcher in Form einer literarischen Übung zu verstehen.[7] Die Schönheit des jungen Manns wird gleich zu Beginn im ersten Sonett gepriesen: „Thou that art now the world’s fresh ornament / And only herald to the gaudy spring“[8]. Zwar wird dem jungen Mann daraufhin nahegelegt zu heiraten, um so seine Schönheit durch die Zeugung eines Kinds zu erhalten,[9] dieser hält sich aber sowieso zurück und neigt zur „Selbstgenügsamkeit“[10]. „Within thine own bud buriest thy content“[11] heißt es über den jungen Mann. Insgesamt bleibt das erotische Element in den ersten 21 Sonetten mehrdeutig:

Insofern fordert jedes einzelne Sonett eine gender-bezogene Lektüre. Der Autor verdunkelt den Text, um dem Leser die Deutung schwer zu machen. Die Gedichte erzeugen im Leser/Zuhörer Unsicherheit im Bezug auf die Bedeutsamkeit der Gender-Sprache.[12]

Diese Diffusion beginnt sich laut Jürgen Klein jedoch aufzulösen, als der junge Mann im 19. Sonett eindeutig auf als „my love“[13] betitelt wird. Der Angesprochene wird in seinem Erscheinungsbild als androgyn beschrieben: „A woman’s face with Nature’s own hand painted / Hast though, the master-mistress of my Passion“[14]. Jürgen Klein betont die „gender-übergreifende[…] Schönheit“[15] des Mannes und dass er sowohl von Männern als auch von Frauen begehrt wird. „[E]r ist emotional weiblich, aber physisch männlich.“[16] Bei insgesamt 126 Sonetten kann es sich bei dieser Darstellung lediglich um einen Abriss handeln, der die Komplexität ebenjener nur erahnen lässt. Gerade diese Komplexität macht es aber umso erstaunlicher, mit welcher Eindeutigkeit zahlreiche Kritiker und Literaturwissenschaftler das Werk Shakespeares interpretiert wissen wollen, indem sie autobiographische Forschungen anstellen, um definitive Aussagen über sein Liebesleben treffen zu können und dadurch jeglichen Interpretationsansätzen einer schwulen Leseinterpretation den Wind aus den Segeln nehmen wollen. In A History of Gay Literature zeigt Gregory Woods in einem Kapitel zu Shakespeare recht ausführlich, wie im Laufe der Literaturgeschichte versucht wurde, die Heterosexualität des Barden zu erhalten. So wurde unter anderem argumentiert, dass ein wichtiger Schriftsteller – und vor allem ein Nationalschriftsteller wie Shakespeare – unmöglich über ein solch unschickliches Thema wie das der Homosexualität schreiben könnte.[17] Damit einher geht vermutlich die Vorstellung, dass ein homosexueller Schriftsteller nicht in der Lage ist, über universelle Themen zu schreiben. Auch wurden die Sonette beschreiben als „merely conventional, not sincere and should not be taken at face value as apparently intense and obsessive expression of passion.“[18] Andere wiederum argumentieren, dass eine Interpretation, die Homoerotik miteinschließt, Rückschlüsse auf die Sexualität des Interpreten schließen lässt und „of course, no reasonable person […] could be happy with such a ‚charge‘ being laid ‚against‘ them.“[19] Auch wurde vor allem von Gegnern eines queeren Lesens der Sonette immer wieder versucht, die Identität von „Mr. W.H.“, „the collection’s supposed dedicatee“[20], eindeutig zu klären. Denn ein Gönner „of much higher rank“[21], dem Shakespeare mit seinen Sonetten schmeicheln möchte, würde die Heterosexualität des Autors bestätigen. Insgesamt begegnen sich die Interpreten der Sonette also mit vollkommen Ansprüchen: Während die Gegner einer homoerotischen Komponente in den Sonetten autobiographisch argumentieren, beschränken sich die Befürworter auf textinterne Lesehinweise. Dabei interessiert die Befürworter im Großen und Ganzen die Sexualität Shakespeares nicht, es reicht, dass sich die Sonette wie schwule Liebesgedichte lesen lassen; oder, um es in den Worten Gregory Woods zu sagen: „The reader’s pleasure is paramount.“[22]

Anders verhält es sich mit dem Werk Franz Kafkas, dessen Leben oft als Folie herangezogen wird, um sein komplexes Werk zu erklären. Eine Interpretation von Kafkas Texten als schwule Literatur erstreckt sich über sein gesamtes Werk, konzentriert sich aber auf Die Verwandlung und Der Process. Während Die Verwandlung („Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“[23]) als Geschichte eines Mannes beschrieben wird, der nach Bekanntwerden seiner Homosexualität von seiner Familie wie ein Ungeziefer behandelt wird, kann Der Process („Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“[24]) für die strafrechtliche Verfolgung eines Homosexuellen unter dem Paragraphen 175 stehen.[25] Bei der Interpretation von Kafkas Romanen muss berücksichtigt werden, dass diese lediglich als Fragmente vorliegen, die nach seinem Tod veröffentlicht wurden.[26] Das hat die Literaturwissenschaft jedoch nicht davon abgehalten, sein Werk als Ganzes kontrovers zu diskutieren und die

Rätselhaftigkeit seiner Romane, Erzählungen und Parabeln, die einerseits in einem geradezu trockenen ‚Beamtendeutsch‘ geschrieben sind, andererseits unauflösbare Paradoxe der Handlung, der Äußerungen der Protagonisten und der Kommentierungen des Erzählers enthalten[27]

entschlüsseln zu versuchen. Kafkas Texte anhand seiner Biographie interpretieren zu wollen, ist ein Negativbeispiel dafür, wie man ein dreidimensionales Werk beschränken und dadurch seiner Faszination berauben kann.[28]

So sind sich auch Literaturwissenschaftler wie Gregory Woods, die versuchen eine Geschichte der schwulen Literatur zu schreiben – denen man also eine Agenda vorwerfen könnte – darüber einig, dass es nicht zielführend ist, so wie es Ruth Tiefenbruns getan hat, Kafka aufgrund unzureichender biographischer Belege darauf zu reduzieren, dass er homosexuell war und dies in seinen Texten zu verarbeiten versuchte.[29] In diesem Interpretationsansatz ist beispielsweise Kafka mit der Figur Gregor gleichzusetzen, während der Käfer für die Homosexualität steht.[30] Es handelt sich im Ansatz – „stripped of its crass psychoanalytic generalisations about ‚the homosexual‘ as a type“[31] – um eine interessante Interpretation für Die Verwandlung. Enttäuschend ist jedoch die Reduzierung Kafkas auf seine vermeintliche Homosexualität, wodurch ein dreidimensionaler Text wie Die Verwandlung keine vierte Dimension erhält, sondern irritierenderweise eindimensional wird.[32] Dabei bieten Kafkas Texte selbst ausreichend Signale für eine homoerotische Interpretation.

In Das Schloss beispielsweise ist die Hauptfigur „actively heterosexual“[33], findet beispielsweise auch die Figur Barnabas attraktiv.[34] Auch Woods beschreibt, dass sich die Beschreibung dieser Anziehung in der Schwebe befindet. So reagiert die Figur Frieda, als es an der Tür klopft und K. Barnabas Namen ruft mit folgenden Worten: „Hättest Du doch einmal nur so liebend mich gerufen, wie damals aus mir unverständlichem Grund diesen verhaßten Namen.“[35] Es bleibt offen, ob es sich an dieser Stelle um „unconscious self-betrayal“[36] handelt oder ob Frieda in ihrer Aussage von Paranoia getrieben wird. In einem Traum gibt es jedoch weitere Hinweise auf eine homoerotische Komponente:

Ein Sekretär, nackt, sehr ähnlich der Statue eines griechischen Gottes, wurde von K. im Kampf bedrängt. Es war sehr komisch und K. lächelte darüber sanft im Schlaf, wie der Sekretär aus seiner stolzen Haltung durch K.‘s Vorstöße immer aufgeschreckt wurde und etwa den hochgestreckten Arm und die geballte Faust schnell dazu verwenden musste um seine Blöße zu decken und doch damit noch immer zu langsam war. Der Kampf dauert nicht lange, Schritt für Schritt und es waren sehr große Schritte rückte K. vor. War es überhaupt ein Kampf? Es gab kein ernstliches Hindernis, nur hie und da ein Piepsen des Sekretärs. Dieser griechische Gott piepste wie ein Mädchen, das gekitzelt wird.[37]

Woods stellt sich die Frage, ob es sich überhaupt um einen Kampf handelt und ob das Zurschaustellen männlicher Brustkörbe vielleicht ein Hinweis und Zugeständnis sexueller Anziehung sind.[38]

Wolfgang Popp weist darauf hin, dass das „Handschütteln“ auch als Geheimcode Kafkas und als Maskerade schwuler Literatur allgemein gedeutet wurde.[39] In Kafkas Erzählung Beschreibung eines Kampfes verbirgt „die Geheimsprache schon fast nichts mehr“[40]:

‘[…] wie meine Hände in den Manschetten hin- und herschlenkerten und so lustig haben sie das gemacht. Da dachte ich mir gleich: Wart, heut kommt was. Und es ist auch gekommen.‘ Dieses sagte er schon im Gehn und sah mich lächelnd mit großen Augen an.

Soweit hatte ich es also gebracht. Er durfte mir solche Sachen erzählen, dabei lächeln und große Augen auf mich machen. Und ich, ich musste mich zurückhalten, daß ich meinen Arm nicht um seine Schultern legte und ihm in seine Augen küßte zur Belohnung dafür, daß er mich so gar nicht brauchen konnte.[41]Kafkas Texte sind offen genug, um diese Textzeile auch anders, womöglich freundschaftlich, zu interpretieren. Worauf es aber ankommt, ist, dass es durchaus möglich ist, in diesen Worten eine homoerotische Komponente zu erkennen, ohne dabei auf die Biographie des Autors zurückgreifen zu müssen. Das Queeren eines Textes von Kafka wird wahrscheinlich auf beiden Seiten des sexuellen Spektrums für Kritik sorgen. Dabei geht es aber – und das muss wiederholt werden – nicht darum, Kafka als Person zum Homosexuellen zu erklären. Auch viele seiner Figuren können – auch bei allen homoerotischen Komponenten – durch ein Queering nicht einfach als eindeutig homosexuell beschrieben werden. Was aber möglich ist, ist den Text selbst für seine Interpretation als Beweis heranzuziehen.[42]


[1] Vgl. Klein, Jürgen: William Shakespeare. In: Frauenliebe, Männerliebe. Eine lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Portraits. Hrsg. v. Busch, Alexander u. Linck, Dirck. Stuttgart: Metzler, 1997. S.403.

[2] Vgl. Ebd.

[3] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.101.

[4] Klein, Jürgen: William Shakespeare. In: Frauenliebe, Männerliebe. 1997. S.404.

[5] Vgl. ebd. S.403.

[6] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.99.

[7] Vgl. Ebd.

[8] Vgl. Shakespeare, William: Sonnet 1. In: Shakespeare, William: Complete Sonnets & Poems. Hrsg. v. Colin Burrow. Oxford: Oxford University Press, 2002. S.383. (V.9-10).

[9] Vgl. Ebd. (V.4)

[10] Vgl. Klein, Jürgen: William Shakespeare. In: Frauenliebe, Männerliebe. 1997. S.405.

[11] Shakespeare, William: Sonnet 1. In: Complete Sonnets & Poems. 2002. S.383 (V.11).

[12] Klein, Jürgen: William Shakespeare. In: Frauenliebe, Männerliebe. 1997. S.405.

[13] Vgl. Shakespeare, William: Sonnet 19. In: Complete Sonnets & Poems. 2002. S.419 (V.14).

[14] Vgl. Shakespeare, William: Sonnet 20. In: Ebd. S.421. (V.1-2).

[15] Vgl. Klein, Jürgen: William Shakespeare. In: Frauenliebe, Männerliebe. 1997. S.405.

[16] Vgl. Ebd.

[17] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.100.

[18] Vgl. ebd. S.101.

[19] Vgl. ebd. S.100.

[20] Vgl. ebd. S.99.

[21] Vgl. ebd.

[22] Vgl. ebd. S.9.

[23] Vgl. Kafka, Franz: Die Verwandlung. Stuttgart: Reclam, 2006. (=Reclams Universal-Bibliothek; Bnd. 9900). S.5.

[24] Vgl. Kafka, Franz: Der Process. Stuttgart: Reclam, 2017. (=Reclams Universal-Bibliothek; Bnd. 9676). S.7.

[25] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.230f.

[26] Vgl. Popp, Wolfgang: Männerliebe. 1992. S.362.

[27] Vgl. Ebd.

[28] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.230.

[29] Vgl. Ebd. S.229f.

[30] Vgl. Ebd. S.230.

[31] Vgl. Ebd.

[32] Vgl. Ebd.

[33] Vgl. Ebd. S.229.

[34] Vgl. Kafka, Franz: Das Schloss. Nachwort von Michael Müller. Stuttgart: Reclam, 2018. (=Reclams Universal-Bibliothek; Bnd. 9678) S.27f.

[35] Vgl. ebd. S.172.

[36] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.229.

[37] Kafka, Franz: Das Schloss. 2018. S.283.

[38] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.229f.

[39] Vgl. Popp, Wolfgang: Männerliebe. 1992. S.365.

[40] Vgl. Ebd.

[41] Vgl. Kafka, Franz: Beschreibung eines Kampfes. Fassung B. In: Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 5. Beschreibungen eines Kampfes und andere Schriften aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. Nach der Kritischen Ausgabe. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main: Fischer, 1994. S.106.

[42] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.231.

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