2. Was ist ’schwule Literatur‘? – 2.2.2 Schwule Literatur zwischen Subkultur, Ghetto und Mainstream

Schwule Literatur zwischen Subkultur, Ghetto und Mainstream

Die Frage, an wen sich schwule Literatur richtet, bewegt sich im Spannungsfeld einer Literatur zwischen Subkultur, Ghetto und Mainstream. Denn es gibt durchaus Autoren, die sich in ihrer Sexualität als homosexuell definieren und ebenso homosexuelle Themen in ihren Texten reflektieren, ihre Romane aber nicht als schwul kategorisieren wollen: „This objection clearly relates to that critical view of the label ‚gay‘ that sees it as a straitjacket – as a confining, rather than liberating, self-identification.“[1] Stattdessen möchten diese Autoren in den Mainstream-Bereich der Literatur vordringen und ein möglichst weites Publikum erreichen.[2]

Dazu zählt unter anderem der amerikanische Schriftsteller Michael Cunningham. Michael Cunningham hat für seinen 1998 erschienenen Roman The Hours[3] im darauffolgenden Jahr den Pulitzer-Preis gewonnen. Der Roman erzählt die ineinander verwobenen Geschichten von Virginia Woolf, welche 1923 gerade damit begonnen hat ihren Roman Mrs. Dalloway zu schreiben, der Hausfrau Laura Brown, die eben jenen Roman in einem Vorort von Los Angeles in den 1960er Jahren liest, und Clarissa Vaughn, die von ihrem Jugendfreund den Spitznamen Mrs. Dalloway erhalten und für diesen – ähnlich wie auch in Virginia Woolfs Roman – eine Party vorbereitet. Unter anderem lebt Clarissa in einer lesbischen Beziehung, während ihr Jugendfreund Richard homosexuell ist und an AIDS stirbt.

Although this death points to the tragic significance of AIDS, the novel barely touches on the messy realites of embodied gay lives and the complex interrelations between gay individuals and gay communities. […] If the novel ignores the idea of LGBTQ community, it incorporates the queer moment of the 1990s only to dismiss it.[4]

Was Cunningham in seinen Texten als eine universale Qualität verstanden wissen möchte, haben einige Kritiker jedoch als „the sanitization and marignalization of gay life“[5] beschrieben. Cunninghams Darstellung orientiert sich an dem Konzept des ‚post-gay‘: In Großstädten der westlichen Welt begegnet man homosexuellen Personen oft nicht mehr mit Ausgrenzung und Diskriminierung,[6] so dass die Behandlung der Thematik auch in der Literatur eine eher untergeordnete Rolle spielen soll. Auch auf französischer Seite gibt es zwischen den verschiedenen Autoren einen ideologischen Konflikt. Viele der homosexuellen Autoren wollen nicht aus einer Gemeinschaft heraus sprechen, sondern sprechen von einem „individuelle[n] künstlerische[n] Ausdruck“[7], die dann in ihrer Gesamtheit so etwas wie eine Tradition begründen könnten. Auch diesen Autoren macht man zum Vorwurf, dass sie das Ghetto und somit auch die Kategorisierung ihrer Literatur ablehnen, die Vorteile aber trotzdem nutzen, um sowohl ein explizit homosexuelles Publikum, aber auch ein Mainstreampublikum anzusprechen.[8]

Ein französischer Schriftsteller, der sich im Ghetto der schwulen Literatur wohlfühlte und sich als ‚écrivain gai‘ verstanden wissen wollte, ist der mittlerweile verstorbene Guillaume Dustan. Auch Dustan ist sich bewusst, dass die Definition von schwuler Literatur problematisch ist. Es gibt scheinbar nichts, was sie von der restlichen Literatur grundlegend unterscheidet: Sie hat keine Nationalsprache oder eine eigene Narrativik, außerdem existiert sie in Form unterschiedlichster Genres.[9] Was ist sie dann? „La littérature gaie est une littérature nationale des nouvelles nations, des nations opprimées, des nations sans états.“[10] In diesem Sinne ist schwule Literatur so zu verstehen, dass sie parallel zu den einzelnen Nationalliteraturen existiert und sich anstatt in einer Genealogie „als intertextuelles Netzwerk verstehen lässt[,…] deren Beziehungen noch lange nicht in aller Deutlichkeit herausgearbeitet worden sind.[11] Diese Definition bezieht sich auf jedoch hauptsächlich auf die schwule Literatur, die sich einem schwulen Leser und seiner Subkultur verpflichtet fühlt,

eine gesellschaftliche Gruppe […], die sich in ihren Ritualen und kulturellen Gepflogenheiten, in ihrem Lebens- und Kleidungsstil und ‚natürlich‘ – der entscheidende gemeinsame Nenner – in ihrer Sexualität von anderen soziologisch zu konstruierenden Gruppen unterscheidet.[12]

Der Autor Felice Picano geht soweit, dass diese Form der Literatur einen idealen Leser voraussetzt, der die Subkultur und all ihre Eigenheiten versteht oder zumindest bereit ist zu verstehen und dass es sich bei diesem idealen Leser in der Regel nicht um eine „sixty-years-old woman living in the suburbs“ handelt.[13] Es geht nicht darum, die schwule Subkultur für solche Leser zu erklären, sondern sie lediglich zu präsentieren, um nicht Gefahr zu laufen, ihre Anerkennung zu erflehen.[14] Schwule Autoren sehen sich also noch immer „in einer gewissen Opposition zur vorherrschenden Gesellschaft […] und [streben] nach einer deutlich artikulierten kollektiven Identität“.[15] Und auch in einem aktuellen Interview spricht der deutsche Schriftsteller Gunther Geltinger von einem „anderen Blick auf die Mehrheitsgesellschaft.“[16] Die Frage, wo genau sich homosexuelle Autoren mit ihrer Literatur verorten, ist also durchaus noch immer von Belang.

Entsprechend findet auch die Vermarktung innerhalb der schwulen Subkultur statt: Schwule Literatur wird oft in schwulen Verlagen veröffentlicht, in schwulen Buchläden verkauft und in schwulen Zeitschriften besprochen.[17] Dass schwule Literatur in Zeitschriften mit einem homosexuellen Schwerpunkt besprochen wird, ist natürlich nichts Neues: Immerhin ist der schwule Kanon in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts, wie bereits erwähnt, stark von der Zeitschrift Der Eigene und dem Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen geprägt worden. Französische Verlage, die sich unter anderem auf schwule Literatur spezialisiert haben sind: „Les Editions gaies et lesbiennes, DLM, Les Passage du Marais, Double Interligne, Les Editions Gai-Kitsch-Camp“[18]. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um ein Phänomen der französischen Verlagslandschaft, auch in Deutschland gibt es zahlreiche Verlage mit einem schwulen Schwerpunkt. Darunter fallen der Männerschwarm und der Albino Verlag. Aber auch der Männerschwarm weist in seiner Verlagsphilosophie darauf hin, dass sie „blinde Flecken“ in der Literaturszene beseitigen wollen, das aber nicht heißt, dass der Verlag sich nur an eine homosexuelle Leserschaft richtet.[19] Wahrscheinlich, weil gerade so die Gefahr besteht, die herausgebrachte Literatur „einem ohnehin nicht interessierten Publikum dem Blick zu entziehen“.[20]

All das heißt aber nicht, dass es nicht auch Grenzgänger unter den homosexuellen Autoren gibt oder dass Autoren, die sich selbst als ‚schwule Autoren‘ bezeichnen nicht auch eine breite Leserschaft finden können. Garth Greenwell beispielsweise sagt von sich selbst:

Absolutely I am a gay writer. And not only that, I want to tell gay stories about gay communities for gay readers, because I think that this incredible progress that queer people have made in things such as marriage equality have come at the cost of a mainstreaming narrative that has homogenised queer lives in a way that has sacrificed far too much and, tragically, has further marginalised the most vulnerable members of the queer community.[21]

Garth Greenwells Debütroman What Belongs to You[22] wurde in den Vereinigten Staaten von Farrar, Straus and Giroux publiziert und wurde unter anderem für den National Book Award und den Pen/Faulkner Award nominiert.[23] In Deutschland wurde die Übersetzung von Daniel Schreiber im Hanser Verlag veröffentlicht.[24] Besprochen wurde der Roman von Zeitungen wie der FAZ[25], Spiegel Online[26] und der Süddeutschen[27].

Was an den bisherigen Beispielen auffällt, ist, dass es sich bei den Autoren in der Regel selbst um homosexuelle Männer handelt, so dass die Frage „Wer schreibt?“ sich zu erübrigen scheint. Es gibt jedoch auch Bücher wie A Little Life[28] von (der vermeintlich heterosexuellen) Hanya Yanagihara oder auch Verwirrnis[29] von Christoph Hein. Während Garth Greenwell dafür plädiert, A Little Life zum „the great gay novel“[30] zu küren, weist Michelle Hart darauf hin, dass ausgerechnet der Roman einer heterosexuellen Frau über eine Gruppe homosexueller Männer kommerziell sehr erfolgreich ist und der Text

essentially suggests gay men can either be yuppies or victims of sexual abuse—or you know, both. There seems to be no in between when it comes to queer characters, male or female. We’re either just like them or we suffer greatly because we’re not like them.[31]

Jens Jessen wiederum bezweifelt, ob Heins nüchterner Ton angemessen ist, um die Geschichte eines homosexuellen Mannes in der DDR zu erzählen.[32] Die Frage, inwiefern heterosexuelle Gegenwartsautoren schwule Literatur schreiben können, lässt sich nicht beantworten, muss aber zumindest angesprochen werden. Immerhin ist die Definition von schwuler Literatur auch weiterhin sehr offen und es wird zumeist darauf hingewiesen, dass sowohl die Sexualität der Autoren das ausschlaggebende Kriterium sein kann, als auch die Sexualität der Figuren.[33] In Bezug auf Gayatri Chakravorty Spivak entwickelt Joanne Sharp die Theorie, dass nicht-westliche Formen des Wissens von westlichen Intellektuellen marginalisiert werden und subalterne Gesellschaftsschichten die Sprache ihrer Unterdrücker annehmen müssen, um gehört zu werden.[34] Bell Hooks schreibt zu dem Verhältnis von westlichen Intellektuellen und subalternen Gesellschaftsschichten:

No need to hear your voice. Only tell me about your pain. I want to know your story. And then I will tell it back to you in a new way. Tell it back to you in such a way that it has become mine, my own. Re-writing you, I write myself anew. I am still author, authority. I am still [the] colonizer, the speaking subject, and you are now at the center of my talk.[35]

Restlos lassen sich diese Überlegungen nicht auf die schwule Literatur übertragen. Das Beispiel des erfolgreichen Romans A Little Life zeigt jedoch, dass sich Parallelen finden: Auch diesem Roman und seiner Autorin könnte man vorwerfen, dass sie die Geschichte homosexueller Männer besser erzählen möchte, als es womöglich homosexuelle Autoren können. Und auch das Vordringen der schwulen Literatur in den Mainstream mit der damit einhergehenden Ablehnung des Ghettos erinnert an den Sprachverlust der subalternen Gesellschaftsschichten. Es kann heterosexuellen Schriftstellern nicht verboten werden (und sollte selbstverständlich auch nicht), über homosexuelle Themen und Figuren zu schreiben. Allerdings sollte berücksichtigt werden, wie sie ihre Figuren und die Themen präsentieren. Ebenso wenig Sinn macht es, Autoren, die sich selbst nicht als ‚schwule Autoren‘ definieren wollen, aus diesem Grund aus der schwulen Literatur auszuschließen. Viel mehr gilt es in Zukunft das Spannungsverhältnis zwischen Ghetto, Subkultur und Mainstream in der schwulen Literatur zu untersuchen.


[1] Brookes, Les: Gay Male Fiction Since Stonewall. 2009. S.8.

[2] Vgl. Dynes, Wayne R.; Donaldson, Stephen. Introduction. In: Homosexual Themes in Literary Studies. 1992. S.xivf.

[3] Vgl. Cunningham, Michael: The Hours. London: Fourth Estate, 1999.

[4] Vgl. Davidson, Guy: The Time of AIDS and the Rise of ‚Post-Gay‘. In: The Cambridge Companion to American Gay and Lesbian Literature. 2015. S.151.

[5] Vgl. Ebd.

[6] Vgl. Tóibín, Colm: Love in a Dark Time. 2003. S.7f.

[7] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto?: In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.269.

[8] Vgl. Ebd.

[9] Vgl. Guillaume, Dustan: Nicolas Pages. Paris: Balland, 1999. S.89.

[10] Vgl. Ebd.

[11] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto? In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.267.

[12] Vgl. Ebd. S.252.

[13] Vgl. Canning, Richard: Gay Fiction Speaks. Conversations With Gay Novelists. New York: Columbia University Press, 2000. S.193f.

[14] Vgl. Ebd. S.194.

[15] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto? In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.21.

[16] Vgl. Gerk, Andrea: Ein Afrika-Roadtrip als Beziehungskitt. Gunther Geltinger im Gespräch mit Andrea Gerk, unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/schriftsteller-gunther-geltinger-ein-afrika-roadtrip-als.1270.de.html?dram:article_id=443331 (abgerufen: 05.05.2019).

[17] Vgl. Ebd. S.268f.

[18] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto? In: Lesen Sehen Begehren. 2001. S.268.

[19] Vgl. o.A.: Die Verlags-Philosophie, unter:

https://www.maennerschwarm.de/index.php/ueber-uns/10-die-philosophie (abgerufen: 05.05.2019).

[20] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto? In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.268f.

[21] Clark, Alex: Interview. Garth Greenwell. ‘Cruising parks need to be written about with much more richness and nuance’, unter:

https://www.theguardian.com/books/2016/mar/26/books-interview-garth-greenwell-what-belongs-to-you-gay-rights (abgerufen: 05.05.2019).

[22] Vgl. Greenwell, Garth: What Belongs to You. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2016.

[23] Vgl. o.A: Home, unter: http://www.garthgreenwell.com/ (abgerufen: 05.05.2019).

[24] Vgl. Greenwell, Garth: Was zu dir gehört. Aus dem Amerikanischen von Daniel Schreiber. Berlin: Hanser, 2017.

[25] Vgl. Platthaus, Andreas: Roman „Was zu dir gehört“. Schreiben, was man lebt, unter:https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/garth-greenwells-roman-was-zu-dir-gehoert-15423008.html(abgerufen: 05.05.2019).

[26] Vgl. von Cranach, Xaver: Die Lust und die Scham, unter:

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-155477449.html. (abgerufen: 10.07.2019).

[27] Vgl. Janker, Karin: Krankheit, Schmutz und Körperlichkeit, unter:

https://www.sueddeutsche.de/kultur/amerikanische-literatur-krankheit-schmutz-und-koerperlichkeit-1.3914073 (abgerufen: 05.05.2019).

[28] Vgl. Yanagihara, Hanya: A Little Life. New York: Doubleday, 2015.

[29] Vgl. Hein, Christoph: Verwirrnis. Berlin: Suhrkamp, 2018.

[30] Vgl. Greenwell, Garth: A Little Life. The Great Gay Novel Might Be Here, unter: https://www.theatlantic.com/entertainment/archive/2015/05/a-little-life-definitive-gay-novel/394436/ (abgerufen: 05.05.2019).

[31] Vgl. Hart, Michelle: To Suffer or To Disappear. The State of Queer Literary Fiction, unter: https://bookriot.com/2017/06/08/to-suffer-or-to-disappear-the-state-of-queer-literary-fiction/ (abgerufen: 05.05.2019).

[32] Vgl. Jessen, Jens: „Verwirrnis“. Die Nacktheit der Knabenhaut, unter:

https://www.zeit.de/2018/41/verwirrnis-christoph-hein-roman-ddr-maennerliebe (abgerufen: 05.05.2019).

[33] Vgl. Bosman, Ellen u. Bradford, John P.: Gay, Lesbian, Bisexual, and Transgendered Literature. A Genre Guide. Hrsg. v. Robert Ridinger. Westport: Libraries Unlimited, 2008. (=Genrereflecting advisory series). S.3.

[34] Vgl. Hooks, Bell: Marginality as a Site of Resistence. In: Out There. Marginalization and Contemporary Cultures. Hrsg. v. Russelsl Ferguson, Trinh T. Minh-ha u.a. Cambridge: The MIT Press, 1992. S.343.

[35] Hooks, Bell: Marginality as a Site of Resistance. In: Out There. Marginalization and Contemporary Cultures. Cambridge: MIT, 1990. S. 241.

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