Unter den Krokodilen muss es einen Spion geben. Wie sonst sollte plötzlich alle Welt wissen, dass sie versteckt unter den Menschen leben? Aber keine Angst, Krokodile sind nicht gefährlich. Sie wollen nur liebgehabt werden und in Ruhe Windbeutel naschen.
Lazi ist Anfang 20, studiert in Taipeh und gehört „zu den Frauen, die sich in Frauen verlieben.“ Ende der 80er Jahre ist das Kriegsrecht zwar aufgehoben und es beginnt sich eine Gegenkultur zu entwickeln, aber Homosexualität ist immer noch unerhört. Wer sich diesem wölfischen Begehren hingibt, stürzt sich unweigerlich in die Verzweiflung. Das bekommt Lazi dann auch am eigenen Leibe zu spüren, als sie sich in Shuiling verliebt. Es ist eine Liebe, von der sie wie ein Puzzle zusammengefügt wird – und in der sie sich wie Zucker in Wasser aufzulösen droht. Auch die jungen Männer Mengsheng und Chukuang lieben sich – aber auch sie gehören zu der Sorte Paar, die unter dem Motto „Sie schlugen und vertrugen sich“ zusammenzufassen ist. Lazi und ihre Freunde wollen die neuen Freiheiten der Elite von Taiwan auskosten, sie wollen keine Konservendosen für totes Fleisch wie ihre Eltern werden. Aber sie können sich den gesellschaftlichen Zwängen nicht entziehen.
Gerade einmal 25 Jahre alt war Qiu Miaojin, als ihr Debütroman Aufzeichnungen eines Krokodils erschien. Bereits ein Jahr später nahm sie sich in Paris, wo sie unter Hélène Cixous studierte, das Leben. Suizid und Todessehnsucht ziehen sich als Motiv und Thema durch den kompletten Text. Und deswegen tauchen auch ganz einfach mal die Autoren Osamu Dazai und Yukio Mishima als Figuren auf.
Qiu Miaojins Leben war kurz und intensiv. Das merkt man dem Roman an. Aufgeteilt in 8 Notizbücher besteht es aus Aufzeichnungen, Briefen und Notizen – alle mit einem anderen Schriftbild dargestellt (an einigen Stellen wünscht man sich allerdings der Ulrike Helmer Verlag hätte zu einer anderen Schrift gegriffen, um das Lesen zu erleichtern). Die Sprache ist blumig – was aber auch der Übersetzung aus dem Chinesischen geschuldet sein mag – aber nicht ohne Charme, wenn man sich darauf einlässt. Sogar Regieanweisungen und szenisches Erzählen kommen zum Einsatz. Hier lässt Qiu Miaojin unter anderem Derek Jarman zu Felde ziehen. Parallel dazu zieht sich eine Erzählung von einem Krokodil im Menschenkostüm durch den Text. Das Krokodil hält sich für das einzige seiner Art – und möchte sich vor Scham am liebsten verstecken, als es in eine Bar voller anderer Krokodile tritt. Qiu Miaojin ist sicherlich nicht die einzige, die den Versuch unternimmt, sich dem monströsen Körper anzueignen – aber sie muss eine der ersten gewesen sein.
24 lange Jahre hat es gedauert, bis Qiu Miaojins Klassiker Aufzeichnungen eines Krokodils aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzt wurde. Bereits 2019 tauchte der Roman im Verlagsvorschau von DTV auf – nur um kurze Zeit später spurlos daraus zu verschwinden. Das erinnert an eine Anekdote des Männerschwarm Verlags, dass ein großer deutscher Verlag die Lizenz einen schwulen Romans aus Israel kaufte, nur um es sich kurz nach der Übersetzung wieder anders zu überlegen (Ich vermute, dass es sich um Der Garten der toten Bäume von Jossi Avni handelt, der für kurze Zeit im Suhrkamp Verlag erschien und dann in den Männerschwarm Verlag überwechselte). Nun hat sich aber der Ulrike Helmer Verlag diesem queeren Klassiker angenommen und ihn mit zwei Nachworten versehen, die einen guten Kontext bieten, und einem kleinen Glossar für die sprechenden Namen.
Manch einer mag meinen, dass es zu spät ist für Aufzeichnungen eines Krokodils. Das Werk ist voller Scham, Selbsthass und Todesbilder. Qiu Miaojin ist kein gutes Vorbild für die queere Jugend von heute. Aber ich frage mich: Brauchen wir nur Vorbilder? Ich bin mir sicher, Literatur darf und muss auch etwas Anderes sein. Auch ich brauchte zugegeben eine Weile, um in den Text zu finden. Als ich mich dann darauf besann, wie ich zu Beginn meines Studiums gewesen bin, wünschte ich mir, ich hätte Aufzeichnungen eines Krokodils früher lesen dürfen. Plötzlich ergaben der Pathos, das Drama und die Verzweiflung einen Sinn für mich. Und wer sich auf diese Aspekte konzentriert, ignoriert mit welchem Spaß Qiu Miaojin ihre Geschichte zu erzählen vermag, dass ihre Figur Lazi sich stets für das Leben entscheidet – und durchaus eine Entwicklung durchmacht.
Letzte Worte aus Montmarte ist ein Jahr nach Qiu Maiojins Tod erschienen und noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Aber, so klingt es im Nachwort von Hannah Lühmann an, bei entsprechendem Erfolg könnte eine Übersetzung samt der Briefe und Tagebücher von Qiu Miaojin schon bald folgen. Zu wünschen wäre das. Nun liegt aber zumindest ihr erster Roman auf Deutsch vor. Und deswegen möchte ich mich auch ganz schlicht den Worten von Hannah Lühmann anschließen: „Willkommen, Qiu Miaojin.“