Hanya Yanagihara – A Little Life

Als ich im vergangenen Sommer Hanya Yanagiharas monumental langes Werk A Little Life aus den Händen legte, befand ich mich in Ekstase. 720 Seiten lang (und etwas mehr als 1000 in der deutschen Übersetzung) begleitet man die vier Freunde Jude, Willem, JB und Malcom in ihrem kleinen Leben voller Hochs und Tiefs, Melodramatik, Erfolge und Rückschläge, großer Liebeserklärungen und niederschmetternder Schicksalsschläge – dabei wird kein noch so schmerzhaftes Detail ausgelassen. Jetzt, der Staub hat sich sozusagen gelegt, ist von dieser Ekstase nicht mehr viel übrig.

(Achtung: Diese Kritik spricht im Detail über die Handlung, auch über das Ende des Romans!)

Jude, Willem, JB und Malcom lernen sich an einem kleinen College in Massachusetts kennen und sind von diesem Zeitpunkt an so gut wie unzertrennlich. Das Buch spannt mehrere Jahrzehnte und springt dabei immer wieder zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her, aber auch zwischen den Perspektiven der vier Freunde. Im Mittelpunkt stehen jedoch Willem und vor allem Jude. Denn Jude hütet ein schreckliches Geheimnis, das die anderen in Ansätzen zwar erahnen, in seinem vollen Ausmaß aber weder wissen, noch konfrontieren wollen.

Bereits als Säugling wurde Jude in einer Seitenstraße in einem Müllcontainer ausgesetzt. Seine Kindheit verbringt er in einem Kloster, wo er von den Priestern nicht nur körperlich misshandelt, sondern auch vergewaltigt wird. Als Bruder Lukas ihn zu retten vorgibt, beginnt Judes wahre Tortur. Jahrelang wandern die beiden von Stadt zu Stadt und von Hotel zu Hotel, alles Wegstationen einer nie enden zu scheinenden Hölle. Bruder Lukas verkauft Jude an zahllose Männer, oft auch an Gruppen. Erst in seiner Jugend entkommt Jude den Klauen des pädophilen Priesters und kommt in einem Jugendheim unter – nur um dort weiter körperlich missbraucht und vergewaltigt zu werden. Judes Flucht führt ihn direkt in den Keller eines sadistischen Arztes, der ihn dort gefangen hält und vergewaltigt. Wieder gelingt ihm die Flucht, doch der Arzt überfährt ihn dabei mit seinem Wagen – Jude ist Zeit seines Lebens körperlich entstellt und muss oft auf Krücken oder einen Rollstuhl zurückgreifen. Um mit dem Trauma seiner Kindheit und Jugend zurechtzukommen, zerschneidet er seine Arme und Beine mit Rasierklingen. Als seine Haut nach Jahren diese Art der Selbstgeißelung nicht mehr zulässt und er das Versprechen abgibt, sich nicht mehr selbst zu schneiden, taucht er seine Hand in Öl und setzt sie in Flammen.

Kontrastiert wird das mit all den glücklichen, ja, zuckersüßen Momenten aus dem Leben der vier Freunde. Jude wird trotz allem ein genialer Jurist und wird mit 30 tatsächlich noch von seinem Mentor und dessen Ehefrau adoptiert. Willem schafft den Sprung von der kleinen Theaterbühne auf den großen Bildschirm, Oscar-Gewinn mit inbegriffen. Malcom ist ein gefragter Architekt und JB ein erfolgreicher Künstler. Und dann finden Jude und Willem, seit jeher beste Freunde, endlich auch in der Liebe zueinander.

Man möchte meinen, dass A Little Life ein Buch der Extreme ist. Oder vielleicht liegt es auch an der narrativen Struktur, wie Karin Janker in ihrer Rezension für die Süddeutsche schreibt. Daran, wie es „Hanya Yanagihara in diesem Roman [gelingt], das Erzählen selbst seinem Abgrund zuzuführen und den Leser in diesen Strudel mit hineinzureißen.“

Nur wirklich neu (oder literarisch anspruchsvoll) ist das nicht. Wer Liebesgeschichten zwischen zwei Männern voller Aufs und Abs lesen möchte, braucht nur einen Blick auf die Welt der Fanfictions zu werfen, wo es Millionen von Geschichten gibt, in denen die Leser mit Zuckerbrot und Peitsche gelockt werden. Angst und Fluff heißt das hier. Gerne mit Cliff Hangern zwischen den Kapiteln, um die Leser zum Weiterlesen zu zwingen. Im Grunde hat Hanya Yanagihara nichts anderes als E. L. James mit 50 Shades of Grey gemacht – nur, dass Hanya Yanagihara es irgendwie geschafft hat, 2015 auf die Shortlist des Man Booker Preises zu kommen.

So wie die meisten Autorinnen von Fanfictions mit männlichen Liebhabern ist auch Hanya Yanagihara eine heterosexuelle Frau. Was sicherlich einer der Gründe ist, wieso das Buch von Anfang an zum (wenn auch nicht zum finanziellen) Scheitern verurteilt war.

Bevor Willem eine Beziehung mit Jude eingeht, hat er, bis auf ein paar Experimente im College, stets mit Frauen geschlafen. Da Jude sich nach einigen gescheiterten Anläufen nicht in der Lage sieht, ihre Beziehung körperlich zu vollziehen, schläft Willem nebenher auch weiterhin mit Frauen. Und auch Jude wird mit der Frage konfrontiert, ob er ohne den Missbrauch überhaupt eine Beziehung mit einem Mann eingehen würde. Oder wäre er dann in der Lage, Glück zu empfinden? Würde er dann eine Frau und Kind haben?

Mareike Nieberding von der Zeit lobt den Roman dafür, dass er sich traut, die großen Fragen zu stellen: „Sind Freundschaft und Liebe zwei Worte für dieselbe Sache?

Als Leser, der keine heterosexuellen Scheuklappen trägt, fragt man sich jedoch, ob Autorin, Lektorat und Rezensenten schon einmal etwas von Queerbaiting gehört haben. Queerbaiting, das ist die Methode, eine Beziehung zwischen zwei Männern oder zwei Frauen anzudeuten, sie dann aber nie wirklich darzustellen. Im schlimmsten Fall wird sich über die Möglichkeit, dass die Protagonisten tatsächlich zueinanderfinden könnten, noch lustig gemacht. Denn sowohl Jude als auch Willem vermeiden es, schwul genannt zu werden. In einer Szene, in der Jude und Willem miteinander schlafen, baumelt Judes schlaffer Penis demonstrativ zwischen seinen Beinen. In dieser Beziehung wurden beide sozusagen ihrer Sexualität beraubt. Es ist eine Romanze ohne den tatsächlichen Sex. Fast ist man versucht das Wort „Bromance“ zu gebrauchen.

Immer wieder kommt es vor, dass die Beziehung zwischen zwei Männern angedeutet, aber nicht vollzogen wird, um das vornehmlich weibliche und heterosexuelle Publikum in seinem Verlangen zufriedenzustellen, eine schwule Beziehung mit all ihrem Leid und gesellschaftlichen Zwängen fetischisieren zu können, ohne sich dabei jedoch mit den schmutzigen Details von tatsächlich schwulem Sex auseinandersetzen zu müssen. Immerhin möchte man sich am Ende der Lektüre noch wünschen können, dass man vielleicht selbst mit einem der Männer vor den Traualtar tritt und den Akt der heterosexuellen Liebe vollzieht.

Es gibt nur wenige, tatsächliche schwule Charaktere in diesem Buch. Da wäre zum einem der Anwalt, mit dem Jude kurzzeitig eine Beziehung eingeht und der ihn letzten Endes nicht nur vergewaltigt, sondern auch halbtotprügelt. JB, einer der streitbar unsympathischsten Charaktere des Buches, gerät mit der Zeit immer weiter in den Hintergrund und am Ende scheint es fast ein Wunder, dass sich Yanagihara noch an seinen Namen erinnert. Und dann wären wohl noch die zahllosen pädophilen Männer im Roman zu nennen, die sich an Jude vergehen. Das würde aber voraussetzen, dass man so blöd ist, Pädophilie und Homosexualität gleichzusetzen. Und auch wenn Jude und Willem kein schwules Paar sind, erteilt sie doch das gleiche Ende wie so vielen anderen schwulen Paaren in der Literaturgeschichte: Willem stirbt in einem Autounfall und Jude begeht Selbstmord.

Am Ende hat mich A Little Life ein bisschen Leben gekostet. 720 Seiten später, am Ende des Soges, bin ich froh, dass dieser Roman nicht repräsentativ für schwule Literatur im 21. Jahrhundert ist, aber genauso verärgert darüber, dass Hanya Yanagihara sich zahhloser Motive der schwulen und der queeren Literaturgeschichte bedient, es aber konsequent vermeidet, die Dinge beim Namen zu nennen. Wie so viele queere Charaktere vor ihnen streben Willem und JD nach ihrem persönlichen Glück, nur um von ihrer Autorin genau dafür bestraft zu werden. In A Little Life sind queere Charaktere entweder die schlimmsten Vertretet der menschlichen Spezies oder sie sind auf ewig zum Unglück verdammt.

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