Dorothy Strachey – Olivia

Dorothy Strachey - Olivia

Das schaffen die wenigsten: im gesamten Leben ein einziges Buch mit gerade einmal 100 Seiten schreiben – das zum Klassiker wird. Dass Olivia von Dorothy Strachey bei uns eher unbekannt ist, schmälert diese Leistung kein bisschen.

Wir befinden uns im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts: Olivia ist 16 und wächst in einer liberalen und fortschrittlichen Familie auf. Von den viktorianischen Moralvorstellungen kommen ihre Eltern aber trotzdem nicht los. Gefühl und Verstand sind bei ihnen weit voneinander entfernt. Wie gut, dass Olivia auf ein französisches Internat geschickt wird, wo ihre sinnliche Ausbildung beginnen kann.

Vorbei sind die Tage, an denen auf Spaziergängen die Blicke auf den Boden gerichtet und die Lippen geschlossen bleiben. Ein heller und aufgeweckter Verstand ist gefragt, nicht das Auftreten als Dame. Olivia entdeckt, dass die auferlegte Grenze von Ethik und Moral zur Literatur überwunden und sie auch gefühlt werden kann. Zu verdanken ist das Mademoiselle Julie, welche die Schule mit Charme, Esprit und Witz führt. Und in sie (Skandal!) wird sich Olivia verlieben.

Olivia kann zuerst keine Worte für ihre Gefühle finden, doch schon bald begreift sie, wonach sie sich sehnt, ist allzu menschlich. Es ist eine erste Liebe, wie sie die meisten kennen. Sie beflügelt und lässt uns auf Entdeckungsreise gehen: Die Entdeckung der eigenen Körperlichkeit, aber auch der Welt mit all ihren Wundern, in der wir leben, und das Begehren sie alle kennenzulernen. Liebe kann aber genauso lähmen und fürchterliche Selbstzweifel in uns wecken. Denn mit der Entdeckung der Liebe geht auch oft die Entdeckung der Eifersucht einher.

Dass das Bekenntnis dieser Liebe – denn das ist die Form, welche der Roman annimmt – kein gutes Ende nehmen kann, verwundert kaum. Das hat aber weniger mit Moralvorstellungen zu tun, welche im Roman tatsächlich auch kaum eine Rolle spielen. Die Antwort ist vielmehr im Roman vorangestellten Motto zu finden: L’on n’aime bien qu’une seule fois: c’est la première. Les amours qui suivent sont moins involontaires. Grob übersetzt: Wir lieben nur einmal vollkommen: das erste Mal. Die Lieben danach sind weniger unfreiwillig.

Wem all das seltsam bekannt vorkommt, hat nicht unrecht: Der Roman weist eindeutige thematische Parallelen zu Call My by Your Name auf. Was auch daran liegt, dass Olivia die entscheidende Inspiration für André Aciman war, seinen Roman zu schreiben und der Grund ist, wieso Elio sich in einen Mann mit dem Namen Oliver verliebt.

Dorothy Strachey ist heute vor allem dafür bekannt, dass sie André Gide vom Französischen ins Englische übersetzt hat. Obwohl sie Olivia bereits 1933, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen, geschrieben hat, ist das Buch erst 1949 erschienen – unter dem Pseudonym Olivia. Vielleicht auch aus falscher Bescheidenheit, denn in der Hogarth Press, wo das Buch erschienen ist, war man bekanntlich sehr liberal eingestellt (soll heißen: Hier haben viele gleichgeschlechtlich liebende Menschen gearbeitet). Auf Deutsch ist das Buch vor geraumer Zeit bei Krug & Schadenberg erschienen und ist nur noch antiquarisch zu erwerben. Zeit für eine Neuauflage, würde ich sagen, und Zeit sich an den Namen Dorothy Strachey zu erinnern.

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