„Das ist nicht die Geschichte eines Todes, sondern die unseres Lebens, eine Geschichte wie alle anderen Geschichten, niemals die gleiche, immer die gleiche, Geschichte einer Liebe und ihres Weges, Fluss und Musik.“
‚Meine Freunde, die der Wind davonträgt‘ von Yves Navarre (aus dem Französischen von Claude Stahl) erzählt von Roch und David, einem schwulen Paar. Sie geben sich als solches der Welt zu erkennen, ihre Streitigkeiten, ihr Alltag, ihre Fehltritte, ihre Marotten – in diesen Dingen unterscheiden sie sich nicht von den Banalitäten eines heterosexuellen Paares. Was sie zu Aussätzigen macht – in der Welt und in der Literatur – ist, dass sie beide sterben, an AIDS.
In seinem 1991 erschienenen Roman (die deutschsprachige Übersetzung wurde 2000 veröffentlicht) hebt Yves Navarre jegliche Grenzen auf. Zwischen Roch und David ist kaum noch zu unterscheiden, unter ihren Freund*innen gelten sie als eigenwillig, als selbstgenügsam. Nun haben Sie sich in Rochs Haus in der Avenue Colonial, ihrem Einschlagspunkt, zurückgezogen, wo Roch den sterbenden David pflegt. Sie sind abgeschottet, weil sie im Blick des anderen nicht die Furcht der Außenwelt sehen, in ihrem Gegenüber sehen sie quasi sich selbst. Ihr Weg ist parallel, denn die Krankheit ist auch dabei Rochs Körper zu verzehren, doch er wird den Weg ein wenig länger – und am Ende allein – gehen müssen. Denn David hat sich dazu entschieden, die Behandlung abzubrechen.
In dieser Zeit beginnt Roch zu schreiben, einen Roman über ihr Leben und ihre letzten gemeinsamen Tage: „Solange ich in meine Arbeit vertieft bin und solange ich in der Atmosphäre unseres Buchs, eines trunkenen Schiffes, lebe, sage ich mir, dass David nicht untergehen wird, ich erst nach ihm. David besitzt einen Teil der Unendlichkeit. Seine Gegenwart verwandelt mich, eine Ewigkeit. Wenn er mir „danke“ sagt, weil ich ihn reinige oder mich beuge, spricht er um mir etwas zu sagen, und ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden schreibt, der, der schlummert, oder der, der zitternd den Stift hält.“
Formal führt dieser Roman die Auflösung der beiden Männer zu einer Einheit fort, gehen im Text doch Beschreibungen und Dialoge in einer Zeile ineinander über. Aber auch Abschriften von Davids Briefen und Postkarten finden sich im Text und ein jeder weiß, dass der gleiche Text, reproduziert von einem Zweiten, ein anderer ist. Doch was für einen Unterschied macht das noch, wenn die Grenze zwischen den beiden schreibenden sich auflösen? Das Schreiben ist mehr als ein Hinauszögern des unausweichlichen Endes, es ist das Medium, in dem das Handwerk der beiden Männer – Roch ist Bildhauer, David ist Tänzer – zusammenfindet. Der Text ist Skulptur, ist geformt und folgt wie der Tanz einer Bewegung, einem eigenen Rhythmus.
„Finale, Variation, Refrain, der Text soll summen und schauern.“, wünscht sich David, der Tänzer, als Roch ihm aus dem Manuskript ihres Lebens vorliest und gibt damit seine Form und Motive vor. Er erzählt vielstimmig (Variation) von ihrem Ende (Finale) und zugleich immer wieder vom Alltag ihrer Liebe (Refrain).
Der Roman ist in mehrerlei Hinsicht ein Leben spendendes Medium: Unfähig ihre Liebe im klassischen Sinn zu reproduzieren, legt der Text Zeugnis über ihr Leben ab und auch über die unterschiedlichen Spuren, die sie auf dieser Welt hinterlassen. Der Roman ist ihre letzte materielle Hinterlassenschaft: „In diesen Zeilen geht es um die Ewigkeit, eine Ewigkeit zu zweit, nichts wird unsere Geschichte beschmutzen können, nicht einmal die Einzelheiten, die den Horror des Alltags bestimmen, es geht um die Ehre der Treue zu einem anderen, Winkel, verborgene Winkel eines gemeinsamen Gedächtnisses, Falten, Grübchen, Mulden, Rundungen, Mähnen, Dufte, bis zu den Warzen zwischen den Zehen meines Geliebten, Liebhabers, Liebenden, wehrlos, bedrohend, rührend.“
Yves Navarres Stil ist eigen. Mal lyrisch in seinen Satzanhängseln und Aufzählungen, aber auch rhythmisch, melodisch und höchst stilisiert. Und doch ist diese vom Alltag so weit wie nur irgendwie möglich entfernte Sprache (fast immer) wahrhaftig. Zugleich weiß Navarre sich auch zurückhaltend zu zeigen, denn die Wörter HIV oder AIDS fallen an keiner Stelle im Roman. Es ist die D.D.I-Behandlung direkt auf der ersten Seite, welche zeitgenössischen und eingeweihten Leser*innen die Thematik verraten, an späterer ist das Akronym PWA (Peope with AIDS). Und auch wenn man zurecht behaupten könne, der Roman handle an erster Stelle nicht von AIDS, sondern von Liebe in Angesicht von Krankheit, wäre es vereinfacht, dem Text so etwas wie Universalismus vorzuwerfen – unabhängig davon welche verqueren moralischen Vorstellungen damit einhergingen. Denn der Roman thematisiert durchaus die Diskriminierungserfahrungen homosexueller Männer und die gesellschaftliche Stigmatisierung, die mit AIDS einhergehen.
Yves Navarre (1940-1994) wurde 1980 für seinen Roman ‚Vorbeugender Eingriff‘ für den Prix Goncourt ausgezeichnet. Wie die meisten seiner (nicht sehr zahlreichen) deutschsprachigen Übersetzungen ist ‚Meine Freunde, die der Wind davonträgt‘ in einem winzigen Verlag, das Internationale Literaturwerk Hildesheim, erschienen, den es mittlerweile nicht mehr gibt. Hierzulande ist Yves Navarre dementsprechend größtenteils in Vergessenheit geraten. Auch wenn der Verband Les Ami d’Yves Navarre aktuell eine Werkausgabe des Schriftstellers in Frankreich herausgibt, ist eine Wiederentdeckung im deutschsprachigen Raum eher unwahrscheinlich. Und doch wäre es wünschenswert, wenn die materiellen Hinterlassenschaften des Yves Navarre, der sich am 24. Januar 1994 aufgrund von Depressionen das Leben genommen hat, auch hier für die Nachwelt erhalten blieben.