„Luc, 33 Jahre alt, verkrachter Journalist; Rasky 47 Jahre alt, abgehalfterter Playboy, der dabei ist, zu krepieren, Lucy, 49 Jahre alt, gestrandete Stenotypistin; hier wird in einem Akt, in 40 Kapiteln, über ihre Versuche berichtet, vor sich selbst zu fliehen.“ Sie alle sind ein im Entstehen begriffener Text, eine kerzengerade Einsamkeit, die von einer Kreuzung träumt. Die Kreuzung ist New York City, eine Hölle, in die man nicht hinabsteigt, man geht einfach geradeaus.
Lucs Sujet ist der Tod, auch wenn er nie über ihn geschrieben hat. Nun hat er ein Rendezvous mit ihm. Sein langjähriger Freund und Partner Rasky liegt im Sterben und bittet ihm beizustehen, das Ticket von Frankreich nach New York ist schnell gebucht. Sein letztes Geschenk an Rasky sind seine Geschichten: Für ihn wandert er durch die Straßen, lässt sich von fremden Männern zwischen und unter LKWs einverleiben.
Raskys Untergang ist das Geschenk eines Matrosen: eine zu spät entdeckte Syphilis rafft ihn dahin, hat seinen Körper bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Und zugleich wird die Stadt von einer Plage heimgesucht. Schwarze Käfer, die in den Wänden lauern und sich unaufhörlich vermehren, nichts kann sie vernichten.
Auch Rasky ist wie Luc ein Schreibender: Trennungsbriefe, über 200 an der Zahl. Doch keinen hat Luc je ernst genommen. Er hat sich Rasky nie vollkommen hingegeben können, hat nie etwas zurückverlangt. Nicht einmal das Geschenk des Matrosen konnte Rasky Luc weitergeben. Was ihm bleibt sind die Lokums, eine Köstlichkeit aus Istanbul, die ihm im Mund zergehen und einen widerlich süßen Geschmack hinterlassen. In ihrem Herzen beißt er auf eine Pistazie, die süß und bitter zugleich ist.
Lucy liebt den Tod, sie hat beide Männer ihres Lebens an ihn verloren. Auch für das Schreiben würde sie sterben. Doch sie verfasst nicht mehr als eine herausgerissene Seite nach der anderen. Sie verrät zu viel zu schnell. Welche Kreuzung ist es, welche Lucy auf Konfrontationskurs mit Luc und Rasky führt? In einem Roman, in dem jeder Schritt in Richtung Hölle bedeutet, kann die Antwort auf diese Frage nur einem Alptraum gleichen.
Yves Navarres Roman Loukoum, in deutscher Übersetzung von Trésy Lejoly und Heinz Hentner, ist ein zugleich zärtlicher und sadistisch-brutaler Text, dem auch Apathie und Nihilismus vorgeworfen wurde. Doch Loukoum, dieser Roman über das Moloch New York City, ist viel mehr ein Roman der Verzweiflung. Denn wer über die Hölle schreibt, muss zwangsläufig auch an den Himmel glauben. Loukoum gleicht seiner namensgebenden Speise: unglaublich süß und bitter und nicht leicht zu verdauen.
Loukoum erschien 1973, also 10 Jahre vor der AIDS Epidemie. Und doch nimmt der Text viel von dem vorweg, was die AIDS Literatur später auszeichnen sollte. Auch deswegen wird Loukoum von vielen Lesern als Vertreter eben jenes Genres gelesen. In seinen späteren Werken wie Meine Freunde, die der Wind davonträgt hat er sich direkt mit dem Thema befasst.
Yves Navarre gehörte zu den produktivsten Autor*innen Frankreichs, 1980 wurde er für seinen Roman Vorbeugender Eingriff mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Dass er in Deutschland komplett in Vergessenheit geraten ist, hat vielfältige Gründe. So sind gerade einmal fünf seiner Romane ins Deutsche übersetzt worden, vier davon sind in Verlagen erschienen, die nicht mehr existieren. Und vermutlich hat Yves Navarre mit seiner eigenen Einschätzung nicht ganz unrecht: „Man würde aus mir gerne einen homosexuellen Autoren machen. Man hat mich vermarktet. Und man hat mich vergessen zu lesen.“
In einem 1983 geschriebenen Vorwort, als AIDS bereits das Gesicht der Stadt verändert hatte, erinnert sich Navarre an die Stadt, wie er sie damals vor dreizehn Jahren kennengelernt hat. Und stellt sich die Frage: Und in dreizehn Jahren? Diese Frage sollte für Navarre unbeantwortet bleiben. Am 24. Januar 1994 hat sich der Autor das Leben genommen.