„‘Ich‘ kann ich nicht schreiben, du weißt doch am besten, wie weit der Weg ist bis zum eigenen Ich.“, so Ronald M. Schernikau auf die Frage des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Popp, wieso er seinem autobiografisch geprägten Protagonisten nur das Kürzel ‚b.‘ gebe. Doch tatsächlich beginnt die kleinstadtnovelle mit einem Ich, bevor die Erzählung in die dritte Person wechselt:
„ich habe angst. bin weiblich, bin männlich, doppelt. fühle meinen körper sich von meinem körper entfernen, sehe meine weißen hände, die augen im spiegel, ich will nicht doppelt sein wer bin ich? will ich sein, männlich, weiblich, sehe nur weiß. ich stehe mir gegenüber, will mich erreichen, strecke meine arme nach mir aus wo bin ich? ich sehe, küsse, umarme und vereinige mich. irgendwann taucht lea auf, dann nochmal, schließlich nimmt er es bewusst wahr. b. fühlt: …“
kleinstadtnovelle beschreibt das Ringen um ein authentisches Ich, geprägt von Christa Wolfs Suche nach dem Endpunkt ihres autobiografischen Erzählens, wo die zweite und dritte Person in einem Ich münden, und von Hubert Fichtes Versuch, das hassenswerte Ich zu töten. Rezipiert wurde die 1980 erschienene Novelle aber vor allem als Coming-Out-Text. Vielleicht auch, weil das Coming Out, dieser Prozess des Gefühls, irgendwie anders zu sein, über die Bewusstwerdung und Akzeptanz der eigenen Sexualität, bis hin zum öffentlichen Einstehen eben jener, immer auch ein Ringen um ein authentisches Ich bedeutet.
b. ist Schüler in einer Kleinstadt, ein Außenseiter. Doch auch er wird von der heimlichen „Sehnsucht nach so sein“ getrieben. Er passt nicht in die Rollenbilder der patriarchalen Herrschaftsverhältnisse, liest Verena Stefans Häutungen und lernt: Den Status quo hinterfragen, sich der systematischen Glücksvernichtung zu entziehen, ist der einzig mögliche Weg. In seiner Überlegenheit ist b. dämonisch, er zerstört den schweren Gang der Männer.
Auf einer Klassenfahrt in Berlin schläft er dann mit leif, es kommt zum Skandal. leif streitet die eigene Sexualität ab, gesteht den Eltern, was geschehen ist. Die verlangen, dass der Übeltäter, der Verführer der Schule verwiesen wird. Plötzlich muss b. sich vor der gesamten Schule verantworten. Hier findet sich die unerhörte Begebenheit der Novelle: b.s Mutter, alleinerziehend und deswegen zwangsläufig auch eine Außenseiterin, stellt sich bedingungslos hinter ihren Sohn.
Der Kampf trifft auf taube Ohren, b. wird der Schule verwiesen. Am Ende folgt die Flucht nach Berlin und in die Subkultur und die Schwulenbewegung, deren Anliegen und Themen den gesamten Text prägen. Nur hier ist ein authentisches Ich möglich.
Als Ronald M. Schernikau 1991, gerade einmal 31 Jahre alt, an den Folgen einer AIDS Infektion stirbt, ist sein Werk schmal, sein Magnum Opus Legende sollte erst 1999 veröffentlicht werden. Der überzeugte Kommunist, der freiwillig in die DDR übersiedelte, wurde von seinen Kritikern gerne belächelt, als Träumer und als überholt, eine Renaissance erfährt sein Werk erst seit einigen Jahren. Schon 1992 schrieb Wolfgang Popp: „Dass die kleinstadtnovelle zu einem klassischen Kanon homosexueller Literatur gehört, bleibt Verpflichtung der homosexuellen Literaturgeschichtsschreibung.“