In Italien gehört Pier Vittorio Tondelli zu den Kultfiguren der literarischen Welt, hierzulande ist der Autor 30 Jahre nach seinem Tod größtenteils in Vergessenheit geraten. Mit dem Kamerablick eines Außenstehenden hat er die italienische Jugend der 80er Jahre in seinen Texten portraitiert, aber auch über Homosexualität in aller Direktheit geschrieben – mit der Konsequenz von Zensur und Skandal. Sein aber vermutlich beeindruckendstes Werk ist Getrennte Räume (aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel). Denn in seinem letzten Roman wendet er den Blick nach innen.
Der Italiener Leo und der Deutsche Thomas lernen sich auf einer Party in Paris kennen und verlieben sich ineinander. Ihre Liebe findet drei Jahre später mit dem Tod des gerade einmal 25jährigen Thomas ein plötzliches Ende. Das Wort AIDS sucht man hier vergebens. Doch Thomas‘ ausgemergeltem, mumifizierten Körper und seinen zu großen Kinderaugen sind diese vier Buchstaben eingeschrieben. Ausgehend von seinem Tod beginnt Leo eine Flucht quer durch Europa und die USA und erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit, aber auch an seine Kindheit und Jugend. Getrennte Räume ist ein Roman über die Einsamkeit. Die Einsamkeit vor der Liebe und die Einsamkeit danach. Sie bedingt das Anderssein, die des Künstlers und des Homosexuellen.
„Wir brauchen viel Zeit, um die Brutalität der Tatsache zu akzeptieren, dass wir nicht mehr allein sind.“
Die intensive Liebesbeziehung zwischen Leo und Thomas spielt sich zwischen Paris, Mailand, Rom, Duisburg und Berlin ab. Die Herausforderung ihrer Liebe ist besonders groß, weil Leo nicht an den Wert der Anerkennung geglaubt hat, weil er aus sich selbst Selbstachtung und Recht bezogen hat. Nun ist er allerdings nicht mehr Leo, sondern Leo-mit-Thomas. Trotzdem will Leo an seinem Ideal der ‚Getrennten Räume‘ festhalten, sich und seiner Liebe zu Thomas Freiheiten und Abstand geben, auch um genug Raum für sein schriftstellerisches Schaffen zu haben: „Er lebte die Verbindung zu Thomas, als wüsste er in seinem Innersten, dass sie früher oder später voneinander ablassen würden. Das Getrenntsein war eine Grundkonstante ihrer Liebe, ebenso wie die Anziehung, das Wachsen, das körperliche Begehren. Wenn dies Bewusstsein auch die Trennung nicht verhinderte, so machte es sie doch menschlicher.“
Vielleicht auch deswegen wurde Getrennte Räume vor 30 Jahren als typischer Schwulenroman rezipiert. Der Roman ist noch immer explizit queer, auch aufgrund seiner Verweise auf die schwule Subkultur, doch der Abstand der Zeit und die gesellschaftlichen Prozesse haben das Verhandeln alternativer Beziehungsmodelle in das Bewusstsein der gesellschaftlichen Mitte gerückt.
Der Tod von Thomas steht exemplarisch für die Andersartigkeit des Homosexuellen: „Schön, ihr habt euer Vergnügen gehabt, und das war gut so. Aber wir kämpfen hier um das Leben. Hier steht das Leben auf dem Spiel. Und wir, ein Vater, eine Mutter, ein Sohn, wir sind die wahren Figuren im Spiel des Lebens.“ Ihre Beziehung wird von keiner Institution anerkannt, nicht vom Staat und nicht von der Kirche, und auch nicht von der Gesellschaft. Leo wird stillschweigend des Krankenzimmers verwiesen. Er wird Thomas nicht mehr wiedersehen, nun ist er Leo ohne Thomas.
Für Leo beginnt mit Anfang 30 eine Erkundung seiner Einsamkeit. Er ist als Künstler an keinen Ort gebunden, er verfügt frei über seine Zeit. Das Leben der Menschen um ihn herum ist nicht das seine, „er findet sich täglich um den Bezug zu der Umgebung gebracht, in der er groß geworden ist“. Pier Vittorio Tondelli sagte dazu: „Es ist ein Roman, der sehr viel mit Ingeborg Bachmanns Thema in Das dreißigste Jahr zu tun hat: der Zeitpunkt, an dem man nicht mehr jung ist, aber auch noch nicht alt.“
Getrennte Räume liest sich, als hätte Gunther Geltinger aus den Themen von Daniel Schreibers Essay einen Roman verfasst. Doch dieser Versuch greift natürlich zu kurz, er wird weder Tondelli gerecht noch den zum Vergleich herangezogenen Autoren. Er ist jedoch als der verzweifelte Versuch zu verstehen, Begeisterung für diesen Roman zum Ausdruck zu bringen und vielleicht das Interesse von geneigten Leser*innen zu wecken.
Pier Vittorio Tondelli ist am 16.12.1991 an AIDS gestorben. Auf Deutsch sind neben Getrennte Räume die Romane Rimini und PAO, PAO – Gruppenbild mit Mann. Eine römische Geschichte und der Erzählband Andere Freiheiten beim Rowohlt Verlag erschienen. Ausgerechnet sein 600 Seiten starkes Werk Un weekend postmoderno wurde nicht ins Deutsche übersetzt. Viele biografische Episoden aus diesem journalistischen Texten wurden mit einer Perspektivverschiebung in Getrennte Räume übernommen. Sie richten den Blick von dem öffentlichen auf den privaten Tondelli und würden eine tiefergehende Lektüre ermöglichen. Herr Hinrich Schmidt-Henkel, haben Sie womöglich einen Moment?
1 Kommentar zu „Pier Vittorio Tondelli – Getrennte Räume“
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