Giorgio Bassani – Die Brille mit dem Goldrand

Giorgio Bassani - Die Brille mit dem Goldrand

Mit der Zeit sind es nicht mehr so viele, doch darum noch nicht wenige Menschen, die sich in Ferrara an Doktor Fadigati erinnern – an Athos Fadigati, den Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, der in der Via Gorgadello, ein paar Schritte von der Piazza delle Erbe, wohnte und praktizierte und mit dem es ein so trauriges Ende nahm, ein tragisches Ende; und gerade er schien, als er in jungen Jahren aus seiner Heimatstadt Venedig kam und sich hier niederließ, für eine vollkommen normale, ruhige und eben deshalb höchst beneidenswerte Laufbahn bestimmt.

Doktor Fadigati hat etwas für sich Einnehmendes und Vertrauenserweckendes. Er ist höflich, zurückhaltend und uneigennützig, selbst das Funkeln seiner gutbürgerlichen Brille mit Goldrand mag man in Ferrara. Von der Modernität seiner Arztpraxis ist man gar geblendet und vielleicht nimmt man es ihm ja auch deswegen nicht übel, dass er bei seinen regelmäßigen Kinobesuchen den Bohemien herauskehren lässt, sich auf den billigen Parkettplätzen unter das ‚gemeine Volk‘ mischt (das Durchmischen der Klassen: übrigens ein wiederkehrendes Thema in der schwulen Literatur) und oft verdächtig nahe bei den Soldaten steht. Denn dass Doktor Fadigati 1930 mit 40 Jahren immer noch nicht verheiratet ist, ist für das ganze Städtchen ein Rätsel: „Den Männern erschien es ebenso wie ihren Frauen unverständlich, dass ein so tüchtiger Mann nicht daran dachte, endlich einen Hausstand zu gründen.

Giorgio Bassanis ‚Die Brille mit dem Goldrand‘ (aus dem Italienischen von Hubert Schlüter), ursprünglich bereits 1958 erschienen, zeichnet den wachsenden Antisemitismus im faschistischen Italien zwischen den Weltkriegen und im Zuge der 1938 in Kraft tretenden italienischen Rassengesetze nach. Zugleich ist es die Geschichte eines homosexuellen Mannes, als Arzt ein integrer Bestandteil der gutbürgerlichen Gesellschaft, der sich die vermeintliche Toleranz seiner Umwelt verspielt und zum Geächteten wird.

Denn die Toleranz von Ferrara ist an Bedingungen geknüpft, daran, dass Doktor Fadigati ein Mann der Diskretion ist, jemand, der keine Skandale verursacht. Zwar ist man sich irgendwann in Ferrara einig, dass er ‚so einer‘ ist, das hindert seine Mitmenschen aber nicht daran, im Lichte des Tages den Hut vor ihm zu ziehen, und ihn abends zu ignorieren, als hätte man den Doktor im Gedränge auf den Straßen ganz einfach übersehen. Insgesamt nehmen die Bewohner*innen von Ferrara eine recht pragmatische Haltung ein: „Wissen hieß so viel wie verstehen, hieß: nicht mehr neugierig sein und die Dinge auf sich beruhen lassen.

Doktor Fadigatis„Zurückhaltung, die Mühe, die er sich offenbar bisher gegeben hatte und sich auch weiterhin gab, seine Neigungen zu verbergen und keinen Anstoß zu erregen“ spiegelt sich auch in Bassanis Entscheidung, die Geschichte des Arztes von einem außenstehenden Ich-Erzähler berichten zu lassen. Bassani, der mit Valeria Sinigallia verheiratet und seit 1977 in einer Beziehung mit der Literaturwissenschaftlerin Portia Prebys war, thematisierte Homosexualität immer wieder in seinen Texten. Die Taktik der Distanz durch einen nicht beteiligten Erzähler und das Schutzschild einer heterosexuellen Beziehung sind wohl auch die Hauptgründe, dass Bassani im Gegensatz zu anderen Autoren so offen über Homosexualität schreiben konnte. Auch wenn Italien kein Gesetz hatte, dass Homosexualität unter Strafe stellte – wie es zum Beispiel Deutschland mit dem §175 hatte – war der gesellschaftliche Druck derart enorm, dass er Autoren wie Pier Paolo Pasolini und Umberto Saba zum Schweigen brachte. Beide Autoren haben Texte geschrieben, die sich offen mit Homosexualität auseinandersetzen, doch sowohl Pasolinis ‚amado mio‘ (aus dem Italienischen von Maja Pflug) als auch Sabas ‚Ernesto‘ (aus dem Italienischen von Susanne Höhn und Ulrich Enzensberger) sind erst nach ihrem Tod veröffentlicht worden. Und natürlich gibt Bassani Fadigati, wie das einleitende Zitat deutlich macht (es handelt sich hierbei um den allerersten Satz des Romans, ich verrate also nicht zu viel), ein tragisches Ende – eine Taktik, die zahlreiche Autor*innen verwendeten, um den vielfältigen Formen der Zensur zu entgehen.

Der namenlose Erzähler von ‚Die Brille mit dem Goldrand‘ gehört zu einer Gruppe von Student*innen, die Fadigati befreundet. Denn sowohl Fadigati als auch Bassani trauern einer verlorenen Zeit hinterher: Fadigati seiner Zeit als Student und einer längst vergangenen Liebe und Bassani einem lebendigen jüdischen Leben in Ferrara. Als sich Fadigati in Deliliers, einen der Studenten, verliebt, kommt es zum Skandal, als ihn dieser in der Öffentlichkeit auf grausamste Weise bloßstellt. Fadigati wird zum Aussätzigen, eine Situation, die der Erzähler trotz seiner eigenen Vorurteile nachempfinden kann – denn als die italienischen Rassengesetze in Kraft treten, wird auch er zum Opfer des Henkers. Und auch wenn Fadigati selbst bezeugt, dass ihre Fälle unterschiedlich liegen und der Erzähler anders als der Doktor dem Hass der Welt mit Hass begegnen will, ist doch klar, dass Bassani diese beiden Schicksale nebeneinanderstellt, weil der Boden unter den Füßen dieser Männer ein brüchiger ist. Die Gesellschaft, in der beide leben, ist nur zu gern bereit, unter den richtigen Bedingungen ihre Maske fallen zu lassen und sie zum Opfer einer Hetzkampagne zu machen.

Von Anfang bis Ende perfekt durchkomponiert und mit einer feinen Figurenzeichnung ausgestattet, erzählt der Roman wie schnell das Stimmungsbild einer Gesellschaft kippen und vermeintliche Toleranz in Ausschluss und Gewalt münden können. Dass ‚Die Brille mit dem Goldrand‘ nach über 60 Jahren immer noch zu uns spricht und uns etwas über unsere Gegenwart verraten kann, ist einer der Gründe, warum der Text zu den Klassikern gehört, die diesen Titel auch verdient haben.

Giorgio Bassani wurde 1916 als Sohn einer jüdischen Ärztefamilie in Ferrara geboren. Wie viele andere jüdische Familien im Ort unterstützte auch Bassanis Vater zunächst den Faschismus, er trat bereits 1919 Mussolinis fascio bei, der Roman erzählt die Ereignisse kaum verändert nach: „Doch seitdem Mussolini nach den ursprünglichen Streitigkeiten sich mit Hitler zu einigen begann, war er nervös geworden. Er dachte nur noch an einen möglichen Ausbruch von Antisemitismus auch in Italien; und gelegentlich ließ er sich – und litt zugleich darunter – manch bitteres Wort gegen das Regime entschlüpfen.“ Nach dem Erlass der italienischen Rassengesetze 1938 und dem Beginn der Deportation italienischer Juden und Jüdinnen nach Ausschwitz schloss Bassani sich dem Widerstand gegen den Faschismus an, wofür er auch kurzzeitig inhaftiert wurde. Zugleich machte er es sich zur Lebensaufgabe vom jüdischen Leben in Ferrara literarisch Zeugnis abzulegen, ein Vorhaben, welches er mit seinem Ferrara-Zyklus in die Tat umsetzte. Zu diesen Romanen gehört neben ‚Die Brille mit dem Goldrand‘ im Übrigen auch ‚Hinter der Tür‘ (aus dem Italienischen von Herbert Schlüter), der das Thema Homosexualität ebenso zu einem zentralen Motiv macht, dieses Mal in Form einer Liebesgeschichte zwischen zwei Schülern an einem Gymnasium in Ferrara. Bassani lebte bis zu seinem Tod 2000 in Rom, wo er als Schriftsteller, Dichter, Essayist und Literaturkritiker tätig war.

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