In seinem Nachwort zu Maurice schrieb E. M. Forster: „A happy ending was imperative.” Es ist dieser eine Satz, der Maurice zu einer Ausnahmeerscheinung in der schwulen Literatur macht, zu einem Klassiker im Kanon der queeren Literatur – und zugleich auch der Grund, wieso der Roman zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht werden konnte.
Der 1971 veröffentlichte Roman Maurice ist in einem Atemzug mit Carol zu nennen, der lesbische Klassiker von Patricia Highsmith, die den Roman bereits 1952 veröffentlichte, allerdings unter dem Pseudonym Claire Morgan. Forster schrieb den Roman bereits zwischen 1913 und 1914 und widmete ihn einem „happier year“, ließ testamentarisch allerdings festlegen, dass das Manuskript erst nach seinem Tod veröffentlicht werden durfte. Ein Buch über Homosexualität mit einem Happy End zu veröffentlichen, war 1914 nicht nur unmöglich, sondern auch gefährlich. Erst 1895 war Oscar Wilde zu zwei Jahre schwerer körperlicher Arbeit im Zuchthaus verurteilt worden, 1900 starb er verarmt und gesundheitlich schwer angeschlagen im Pariser Exil. Es war mehr als der Vorwurf der Unzucht, der Wilde zum Verhängnis wurde. Es waren der Skandal, das Öffentliche und die Überschreitung der sozialen Klasse, denn der bürgerliche Wilde hatte sich in den jungen Aristokraten Alfred Douglas verliebt. All dies hat auch Einzug in Maurice gefunden.
Maurice ist ein Coming-out-Roman, das Buch beschreibt die Suche seines titelgebenden Helden nach einem authentischen homosexuellen Ich in einer feindlich gesinnten Gesellschaft. Es ist einer der ersten – wenn nicht sogar der erste – Roman dieser Art. Zwischen Figur und Schöpfer, gibt es, was die biographischen Stationen betrifft, ein paar Überschneidungen, doch hier enden die Gemeinsamkeiten, denn Maurice ist als all das angelegt, was Forster nicht ist. Maurice fühlt sich in seiner privilegierten gesellschaftlichen Position wohl, er unterstützt gesellschaftliche Konventionen und ist im besten Fall ein Snob, im schlimmsten Fall ein Sexist. Er hat sich, kurzum, dem puritanischen Konformismus seiner Zeit vollkommen unterworfen.
Der Roman zeichnet das homosexuelle Erwachen und die Ichfindung, einhergehend mit der Abkehr dieser Werte, in einer doppelten Struktur nach. In Cambridge verliebt sich Maurice das erste Mal in einen anderen Mann, Clive Durham, nachdem dieser ihm Platons Symposion zu lesen gibt. Schwule Literatur ist also schon hier ein erster Schritt auf dem Weg zur Identitätsbildung. Entsprechend ist diese Beziehung eine Liebe im platonischen Sinne, frei von Körperlichkeit und von geistigen Idealen geprägt. Doch ausgerechnet während einer Reise nach Griechenland, entschließt sich Clive, ein „normales“ Leben zu führen und Maurice für eine Frau zu verlassen.
Dem gegenübersteht die Beziehung zu Alec, einem Wildhüter. Ihre Liebe überschreitet die Grenzen der sozialen Klasse. Dieser Unterschied ist es, der es Maurice ermöglicht, eine körperliche Liebe zu entdecken und die Werte der Gesellschaft abzulehnen, ja, zu erkennen, dass es ihm nur möglich sein wird, echte Freiheit zu erleben, wenn er außerhalb der Gesellschaft lebt. Diese Vorstellung von Homosexualität ist von dem Sozialisten und Schwulenaktivisten Edward Carpenter geprägt, den Forster kennenlernte und der ihn dazu inspirierte, Maurice zu schreiben (vielleicht auch dadurch, dass er seine Hand recht zärtlich auf Forsters Rückseite drückte).
Forster überarbeitete das Manuskript in den folgenden Jahren immer wieder. Besonders die gesellschaftlichen Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg animierten ihn dazu, sich an einem Epilog zu versuchen, der Maurice und Alec glücklich vereint zeigt – entschied sich letzten Endes aber dagegen. Auch so wurde das Ende als unrealistisch empfunden – sowohl zu Lebzeiten, als Forster das Manuskript einigen ausgewählten Freunden wie Christopher Isherwoord zu lesen gab, als auch bei der Rezeption des Romans nach Forsters Tod. Dabei scheint die Vorstellung davon, was realistisch ist und was nicht, einzig und allein von literarischen Vorbildern geprägt zu sein – die es in dieser Form natürlich nicht gab. Denn als Forster Edward Carpenter kennenlernte, lebte dieser mit seinem Partner in einem Haus. Und auch Forster selbst war allen Anschein nach bis an sein Lebensende in einer glücklichen Beziehung mit einem verheirateten Polizisten – in dessen Haus er auch gestorben ist.
Nach der Veröffentlichung von Maurice war die Empörung groß. Aktivist*innen ärgerten sich über Forsters vermeintliche Feigheit, den Roman nicht früher zu veröffentlichen, Rezensent*innen verurteilten das Werk als thematische Verirrung und ließen für eine ganze Weile sogar das gesamte Werk des Autors in Vergessenheit geraten. Dabei wird leicht übersehen, dass auch für Forster die Situation unerträglich war. Mit Ausnahme von A Passage to India (1924) verfiel er nach Maurice in literarisches Schweigen und veröffentlichte trotz seines immensen Erfolgs keinen weiteren Roman. Forster wollte nicht länger gezwungen sein, über die heterosexuellen Irrungen und Wirrungen zu schreiben, wenn er zu dem Thema, über das er wirklich sprechen wollte, kein Buch veröffentlichen konnte. Neben seinem Schaffen als Essayist und Kritiker unterstützte er darüber hinaus in den folgenden Jahrzehnten auch andere Autor*innen. 1915 reiste Forster nach Alexandria und lernte dort Kavafis kennen, dessen Werk er einem internationalen Publikum bekannt machte. Als Radclyffe Halls Roman The Well of Loneliness wegen Obszönität vor Gericht stand, machte er sich für Werk und Autorin stark und überzeugte auch Virginia Woolf davon, sich für das Buch einzusetzen.
Queere Klassiker bezüglich ihrer Aktualität abzuwerten, ist immer einfach. Dabei ließe sich an der radikalen Definition von Homosexualität, die hier im Roman dargestellt wird, das heutige Verständnis von Queerness leicht anschließen. Unabhängig davon funktioniert Maurice weiterhin als Geschichte darüber, was es bedeutet gesellschaftliche Konventionen zu hinterfragen und uneingeschränkt zu sich selbst zu stehen. Und das ist immer aktuell und lesenswert.
Eine deutsche Übersetzung (aus dem Englischen von Nils-Henning von Hugo) ist im Fischer Verlag erschienen. Erst dieses Jahr hat William di Canzio mit Alec eine Fortsetzung veröffentlicht, welches ein Leben der beiden Figuren imaginiert, wie es Forster zu Lebzeiten nicht möglich war.