Die Schlampen von Dennis Cooper wird in Form einer Reihe von Rezensionen und Forenbeitragen auf einem Bewertungsportal für männliche Escorts erzählt. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Stricher Brad. Er ist gerade einmal 18, vielleicht auch etwas jünger oder älter. Ihm gegenüber steht Brian, der Mann, der ihn angeblich töten will. Was aus ihm selbst wird, ist Brad egal: „Wenn du immer noch auf diesen schrägen Scheiß stehst, dann ist es halt so. Wenn ich zulasse, dass du Sex mit mir hast, dann hast du mit mir Sex, so wie du es willst. Wenn ich am nächsten Morgen nicht aufwache, dann ist es halt so.“
Nach den ersten Rezensionen melden sich immer mehr Männer zu Wort, die von Brad und seiner Geschichte fasziniert, geradezu besessen sind. Doch woher kommt diese Faszination, was macht Brad so besonders? Die Beteiligten widersprechen sich, Details weichen voneinander ab und schnell wird deutlich, dass zwischen Wahrheit und Fiktion nur noch schwer zu unterscheiden ist. Doch spielt dieser Unterschied überhaupt eine Rolle?
„Brad war bloß eure Idee und ich schätze, ihr meint, er sei eine großartige Idee.“
Im virtuellen Raum der Webseite ist Brad ein Avatar, eine leere Hülle, auf der die Freier ihre Begierden projizieren können, Fantasien, in denen sich Eros und Thanatos die Hand geben. Brad ist käuflich und somit im kapitalistischen Sinne entmenschlicht. Sein Körper ist ein konsumierbares Stück Fleisch, eine Masse, die penetriert, vergewaltigt, auseinandergenommen werden kann. Wenn sich die Grenzen zwischen Begehren, Tod und Liebe auflösen, kann auch der Körper nur ein grenzenloser sein. Die Grenzen, die es gibt, müssen zerstört werden.
Wer ist Brad? Letzten Endes kann die Antwort auf diese Frage nur enttäuschen, denn er ist die Summe seiner Erzähler. Es ist dieses kollektive Erzählen, das aus ihm einen Mythos macht. Und es herrschen andere Ansprüche an die Wahrheit, wenn es um Mythen und Legenden geht. Und weil es im Kern von Mythen immer um eine existenzielle Wahrheit geht, ist auch der Versuch, Brad fassen zu bekommen, so zu verstehen. Der Versuch jemanden in- und auswendig zu kennen, der Versuch über das geschriebene Wort eine Wahrheit greifbar zu machen.
Dennis Cooper wurde am 10. Januar 1953 in Kalifornien geboren, mittlerweile lebt er in Paris. Bekannt ist der Autor vor allem für seinen George-Miles-Zyklus bestehend aus den Romanen Closer (1989), Frisk (1991), Try (1994), Guide (1997) und Period (2000). Auf Deutsch ist der Zyklus zwischen 1995 und 2003 im Passagen Verlag erschienen (auf Deutsch Ran, Sprung, Dreier, Fort und Punkt), die Übersetzungen sind antiquarisch teilweise allerdings nur schwer oder gar nicht mehr erhältlich. Nach God Jr. (2017) und Mein loser Faden (2018) ist Die Schlampen der dritte Roman von Dennis Cooper, der im Wiener Luftschacht Verlag erschienen ist.
Im Original ist das Buch bereits 2004 erschienen, lange bevor Social Media unseren Alltag bestimmt hat. Die Schlampen ist nicht nur ein Text über Obsession, über das prekäre Verhältnis von Wahrheit und Fiktion oder über das Auflösen der Grenzen zwischen Begehren und Gewalt. Fake News, die Gefahren der digitalen Kommunikation, das Spiel mit der brüchigen Identität im digitalen Raum, all das kam später. Doch Die Schlampen lässt heute auch im Hinblick auf diese Themen lesen und interpretieren. Denn gute Literatur kennt kein Alter. Das macht sie nicht unbedingt prophetisch, sondern spricht vielmehr für die Empathie ihrer Autor*innen. In ihren Beobachtungen halten sie etwas die Zeit Überdauerndes über die menschliche Natur fest. Dennis Cooper ist solch ein Autor.
Und auch deswegen sind Vergleiche mit dem Werk von Bret Easton Ellis, dessen Texte vor Hass für sich selbst und seine Mitmenschen trieft, nicht nur ermüdend, sondern auch ärgerlich. Cooper will seiner Umwelt nicht ihre eigene Apathie spiegeln oder sie im schlimmsten Fall gar überzeugen, der Welt mit Gleichgültigkeit zu begegnen. Dennis Cooper ist ernsthaft an den Menschen interessiert. Deswegen schaut er hin – und wir mit ihm. Und das verleiht seinen Texten trotz aller Grausamkeiten auch etwas Zärtliches.