Georg ist im Begriff sich selbst zu vergessen. Und so erzählen drei unterschiedliche Menschen seine Lebensgeschichte, ein Portrait entsteht. Doch es bleibt die altbekannte Frage: Wie gut kann man einen Menschen je wirklich kennen?
Mutter, Geliebten, Ehefrau, diese drei lässt Jürgen Bauer das Portrait Georgs zeichnen. Sie alle erzählen auf ihre eigene Art, mit ihrer eigenen Sprache. Eine simple wie gelungene Strategie, um die verschiedenen Milieus und Perspektiven im Leben Georgs heraufzubeschwören.
Der Ehemann ist über alle Berge, irgendwann während des Zweiten Weltkrieges ist er verschwunden, weil er sich öffentlich gegen die Nazis ausgesprochen hat. Ein Verräter ist er trotzdem, für das Dorf und Mariedl. Und so muss sie als alleinstehende Mutter, ausgeschlossen vom Dorf , einen Hof führen, irgendwie die beiden Söhne durchbringen. Doch der Jüngste, Georg, ist von Anfang an anders. Sie verliert ihn an die Universität, aus dem Bauern wird ein Stadtbub. Der Wechsel des Milieus und der Klassen, die Scham, die damit einhergeht, die eigene Klasse zu verraten, das Unverständnis, weil man plötzlich eine andere Sprache spricht, vielleicht nie die gleiche gesprochen hat – davon berichtet Georgs Mutter.
Auch Gabriel, der Geliebte Georgs, ist vom Land geflohen in die Stadt geflohen. Wien ist nicht Berlin oder New York, doch für den Beginn muss es reichen. Seine Geschichte ist die der Schwulenbewegung der 70er Jahre in Österreich, die Geschichte der AIDS Epidemie. Die Kreise, in denen sich beide bewegen, offenbart die Doppelmoral der Politschwuchteln und auch die Scham der Angepassten, die sie dazu zwingt, sich gegen die Emanzipation zu wehren.
Sara geht mit offenen Augen in die Ehe mit einem schwulen Mann. Als Frau einen Homosexuellen zu heiraten, das ist kein feministischer Separatismus, doch es muss etwas Vergleichbares sein. Denn auch Sara flüchtet vor dem Leben in einer Gesellschaft, die es einer Frau unmöglich macht, sich frei von Gewalt und Erniedrigung zu entfalten. Die Ehe mit Georg gibt ihr die Chance, sein und ihr eigenes Leben nach ihren Vorstellungen zu formen.
Romane mit unterschiedlichen Perspektiven laufen immer Gefahr, dass man als Leser*in die eine mehr schätzt als die andere. Glücklicherweise sind alle drei so individuell, dass ich trotz des Verlangens, mehr über diese Menschen erfahren zu wollen, allen sehr gerne gelauscht habe.
Jürgen Bauers Roman Portrait wird gerne mit den Texten Didier Eribons, Édouard Louis und auch Annie Ernaux verglichen. Auch sie berichten von der Scham der eigenen Herkunft (einer Scham, mit der Linke diese Autor*innen ja allzu gern diffamieren wollen). Das sind berechtigte Vergleiche, doch der Blick muss gar nicht bis nach Frankreich wandern. Auch der Österreicher Josef Winker arbeitet sich in Das wilde Kärnten an den Traditionen der scheinbaren Landidylle ab.
Die Geschichte des Gegenübers setzt immer auch die eigene Geschichte voraus. Und auch deswegen muss die Frage, wie gut man einen Menschen je kennen kann, zumindest graduell eine andere sein. Portrait zeigt eindrücklich, dass wir nie nur eine Sache sind, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Teile von uns kennenlernen. Und wie viele dieser Aspekte kann ein Mensch je wirklich kennenlernen? Jürgen Bauers Portrait beantwortet diese Frage mit einem wunderbar interessanten und unterhaltsamen Roman.