Die vorangegangenen Beobachtungen und Feststellungen sind als Ansätze zu verstehen. In einem doppelten Sinne ist Robert Drakes Hoffnung, dass sein schwuler Kanon keine abgeschlossene, sondern eine hoffentlich nie zu beendende Arbeit sei,[1] hier als Agenda festzuhalten.
Zum eine muss der kanonische Status neuer Werke immer wieder geprüft werden, zum anderen ist die Vergangenheit ein Indikator dafür, dass sich die Werte der schwulen Kultur auch weiterhin insofern wandeln werden, als der bestehende Status von kanonischen Titeln stets neu verhandelt werden muss. Was einst von einer Generation als Klassiker kategorisiert wurde, entspricht womöglich nicht mehr den ästhetischen, ethischen und identitätsstiftenden Vorstellungen im Allgemeinen der kommenden Generation, so dass vereinzelte Titel in den Speicher des kulturellen Gedächtnisses wandern. An erster Stelle steht aber nach wie vor die Frage nach der Identität, denn wie die vorliegende Arbeit zeigt, wird (sexuelle) Identität als ein Konstrukt wahrgenommen, welches sich von Kultur zu Kultur (und auch innerhalb dieser) unterscheidet, aber auch durch die Zeit hinweg neu konstruiert wird. Das Konzept der griechischen Liebe ist uns heute nicht mehr vertraut, Päderastie weiß wahrscheinlich eher zu verstören oder wie Colm Tóibín es ausdrückt: „The gay past is not pure […]; it is duplicitious and slippery, and it requires a great deal of sympathy and understanding.“[2] Das heißt aber nicht, dass die Klassiker der griechischen Antike keinen Platz im Kanon der schwulen Literatur verdient haben. Sie sind ein Beleg dafür, dass homoerotische Beziehungen im Laufe der (Literatur)geschichte als normal empfunden und dementsprechend auch dargestellt wurden. Die Konstruiertheit dieser Wahrnehmung spielt dabei nur eine zweitrangige Rolle, gerade weil die Zusammenstellung der Literatur durch homosexuelle Männer ein eigenständiger Teil der schwulen Geschichte ist. Der Kampf für eine schwule Sensibilität war lange Zeit ein privater, bevor er ins Politische überging.[3] Die Erstellung von Listen mit mythologischen und historischen Figuren, viele, die wir heute nicht mehr als Vorbild einschätzen würden, war ein Versuch einen sicheren Rückzugsort in der Vergangenheit, ein Arkadien, zu finden,[4] der auch Vorbildcharakter für die Zukunft haben konnte. Das ist umso wichtiger, weil sich die Selbstwahrnehmung homosexueller Männer durch die Einführung des Begriffs „Homosexualität“ grundlegend geändert hat und zum ersten Mal so etwas wie ein Bewusstsein für eine kollektive Identität entstanden ist. Sich entwickelnde Sprache, und somit auch Literatur, sind enorme Einflüsse auf die Identitätsbildung einer Gruppe. Jüngst wünschte sich der deutsche Schriftsteller Joachim Scholl von schwuler Literatur „ein bisschen weniger Identitätsspektakel [und] ein bisschen mehr Empathie für Schwule und Lesben, die von Tschetschenien bis Saudi-Arabien immer noch leiden“.[5] Darunter fallen auch die Diaspora – bedingt durch die Globalisierung und politische oder religiöse Verfolgung –, die als Teil der schwulen Literatur nicht ausreichend erforscht sind.[6] Ein moderner schwuler Kanon muss sich den Herausforderungen der Globalisierung stellen und eine transnationale Ausrichtung haben. Dabei ist der historische schwule Kanon im Bereich seiner Klassiker bisher durchaus international ausgerichtet gewesen und hat sich lediglich im Bereich der Subkultur auf Nationalliteratur beschränkt.[7] Der schwule Kanon muss sich in mehrerlei Hinsicht der Welt öffnen. Ob sich die schwulen Subkulturen von Kultur zu Kultur und ihre literarische Darstellung unterscheiden, ist an dieser Stelle irrelevant, solange der transnationale Austausch dieser Literaturen einer Lesepraxis entspricht, „that seeks difference as much as sameness“[8]. Aber auch die Erfahrungen der Diaspora sind zu berücksichtigen, deren Geschichten nationale Grenzen überschreiten. Hier besteht das Potential, dass die Globalisierungsprozesse nicht vereinheitlichend wirken, sondern eine neue kulturelle Vielfalt hervorbringen.[9] Es bildet sich darüber hinaus ein „kosmopolitisches Bewußtsein als notwendige Verbindung von menschlichem Zusammenleben und individuellen gesellschaftlichem Engagement.“[10] Allerdings wäre es leichtsinnig davon auszugehen, dass Herkunft und Ethnie nicht genauso Bestandsteile einer Identität sind wie auch Sexualität, und dass sogenanntes „Identitätsspektakel“ durchaus auch empathisch sein kann. Denn gerade in der Empathie für den Kampf mit der eigenen (sexuellen) Identität liegt die Kraft der schwulen Literatur. Wenn also Didier Eribon schreibt, dass er, um die Scham über die eigene Sexualität abzulegen, sich all die Zuschreibungen seines feindlichen Umfeldes aneignete,[11] kann ein transnationaler Kanon in einem gewissen Maße Kontra bieten. Denn die Zuschreibungen von außen, auch wenn sie sich mit Sicherheit in vielen Punkten ähneln, sind vor allem eins: kultur- und zeitspezifisch. Ein transnationaler Kanon bietet das enorme Potential, dass auch innerhalb einer kollektiven Identität eine individuelle Freiheit besteht. Auch das ist eine Bestätigung für den inneren Kampf mit der Herrschaft wie eine Sentimenthek ihn vorsieht. Das würde auch „[d]ie Abkopplung von anderen gesellschaftlichen Gruppen“, welche Marko Martin der schwulen Literatur vorwirft,[12] unterwandern.
Eine solch transnationale schwule Literatur, die Globalisierungsprozesse mitberücksichtigt, birgt auch die Hoffnung, Einfluss auf die Zensurmaßnahmen gegenüber schwuler Literatur in Ländern wie beispielsweise Russland zu nehmen. Durch den Zugang zu „sexually taboo material in the media“[13] ist es womöglich auch in der breiteren Öffentlichkeit möglich, freier über bestimmte Themen zu schreiben. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, ob die Globalisierungsprozesse die Spezifika der Kultur zerstören oder diese weiterhin bestehen bleiben können. Zumindest ein Blick auf eine der zuerst in Russland veröffentlichten Anthologien schwuler Literatur in Russland zeigt, dass das homosexuelle Begehren auch hier in die Fremde, also in den Westen verortet wird: Homosexualität ist auch hier ein Import einer US-hegemonialen Übermacht und passenderweise heißt die Anthologie auch „Drugoi, or The Other“.[14] Diese Entwicklung ist sicherlich nicht abgeschlossen und muss bei weiteren Forschungen stets berücksichtigt und weiterhin beobachtet werden.
In weiteren Schritten muss der schwule Kanon sich auch den Literaturen weiterer sexueller Identitäten öffnen. Es gilt neben der Kanonbildung schwuler Literatur ebenso jene der lesbischen und Transgender-Literatur zu erforschen und diese unter dem Sammelbegriff eines queeren Kanons zusammenzufassen. Nicht nur, weil immer weniger davon ausgegangen wird, dass „sexuality based on the simple notion of a binary“ ein angemessenes Konzept ist, um Sexualität in all seiner Komplexität zu begreifen, sondern auch, weil das Bedürfnis, sich über eine Literatur nach außen zu repräsentieren und nach innen zu verständigen, – bedingt durch die gesellschaftlich vergleichbaren Situationen – bei allen vermutlich ähnlich aussieht. Das würde auch der bereits erwähnten Vorstellung einer Queer Nation entsprechen, welche zwar keine „Staatsgrenzen überschreitende[…], neue[…] ‚National‘literatur“[15] darstellt, sondern eine Staatsgrenzen überschreitende, neue transnationale Literatur.
Neben diesen Aspekten, die über die Kanonizität eines Werkes entscheiden, ist die Frage der ästhetischen Werte weiterhin ungeklärt. Sicherlich unbegründet ist jedoch der Vorwurf, dass die Autoren schwuler Literatur keinerlei ästhetische Ansprüche erfüllen wollen. Dass sowohl Michael Cunningham als auch Andrew Sean Greer in den letzten Jahren mit einem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurden,[16] während Alan Hollinghurst und Marlon James den Man Booker Preis verliehen bekommen haben,[17] ist nur ein Indikator dafür, dass moderne schwule Literatur ästhetische Ansprüche erfüllt. Andererseits gilt es zu hinterfragen, wessen ästhetischen Ansprüchen man sich überhaupt annähern will und ob nicht auch in den Texten der schwulen Subkultur solche vorhanden sind, diese bisher aber nicht als solche wahrgenommen wurden, weil sie nicht den gängigen Vorstellungen entsprechen.
Auch besteht die Hoffnung, dass mit dem Fortschreiten der Forschung bezüglich der Kanonizität schwuler Literatur diese in Zukunft in der Literaturwissenschaft nicht mehr mit solch einem großen Tabu belegt ist, und auch dass die Homosexualität eines Autors – wo es angebracht ist – als Spezifikum seines Schreibens anerkannt wird. Das heißt allerdings nicht, dass alle Texte biographisch gelesen werden sollen oder können. Auch wird es sicherlich Interpretationen geben, welche im Allgemeinen eher für homosexuelle Leser von Interesse sind, weil sie ein privates Lesevergnügen darstellen. Hier erfüllt der Kanon schwuler Literatur eine doppelte Funktion: Einerseits ist er als Gegenkanon konzipiert, der für eine bestimmte Zielgruppe von Interesse ist, andererseits besteht das Potential, den gängigen Mainstream-Kanon zu unterwandern und für neues Material und neue Perspektiven zu öffnen. Inwiefern dies realistisch und umsetzbar ist, muss an dieser Stelle offen bleiben.
Der schwule Kanon muss Widersprüche dulden und mehrere Funktionen erfüllen. Hier klingt bereits das Prinzip einer queeren Perspektive an, welche sich einfachen Binaritäten entzieht. Er muss die Identitäten einer Gruppe in sich versammeln, die geschichtlich und kulturell nicht eindeutig bestimmt sind und sich stets im Wandel befinden. Auch innere Kämpfe muss er ausreichend darstellen können: Subkultur oder Post-Gay? Der schwule Kanon wertet diese Frage nicht und stellt sie stattdessen in all ihren Facetten dar. Die verschiedenen Kanonformen fungieren als eine Art Sicherheitssystem: Je nachdem welcher Diskurs innerhalb der schwulen Kultur dominiert, können Texte im Kanon der Klassiker präsentiert werden oder im Kanon des kulturellen Gedächtnisses aufbewahrt werden. Auch die Globalisierung und transnationale Perspektive stecken voller Widersprüche. Zum einem bieten sie die Hoffnung, eines kulturellen Austausches, der womöglich sogar Zensurprozesse unterwandern kann, zum anderen droht die Globalisierung kulturelle Spezifika auszulöschen.
In dieser Hinsicht – und in wahrscheinlich vielen mehr – ist der schwule Kanon eine Sentimenthek, eine Bibliothek mit Werken, „die uns in mehr als einem Sinn etwas bedeuten und die uns in unserem inneren Kampf mit der Herrschaft bestärken“.[18]
[1] Vgl. Drake, Robert: The Gay Canon. Great Books. 1998. S.XVII.
[2] Vgl. Tóibín, Colm: Love in a Dark Time. 2003. S.14.
[3] Vgl. Ebd. S.3.
[4] Vgl. Dynes, Wayne R.; Donaldson, Stephen. Introduction. In: Homosexual Themes in Literary Studies. 1992. S.viif.
[5] Vgl. Scholl, Joachim: 50 Jahre LGBT. Homosexualität und Literatur. Weniger Identitätsspektakel, mehr Empathie. Marko Martin im Gespräch mit Joachim Scholl, unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/50-jahre-lgbt-homosexualitaet-und-literatur-weniger.1270.de.html?dram:article_id=452444 (abgerufen: 08.07.2019).
[6] Vgl. Bose, Brinda: Notes on Queer Politics in South Asia and Its Diaspora. In: The Cambridge History of Gay and Lesbian Literature. 2014. S.500.
[7] Vgl. Keilson-Lauritz, Marita: Die Geschichte der eigenen Geschichte. 1997. S.198.
[8] Vgl. Cooppan, Vilashini: The Ethics of World Literature: In: Teaching World Literature. 2009. S.38.
[9] Vgl. Moser, Christian: Globalisierung und Komparatistik. In: Handbuch Komparatistik. 2013. S.161.
[10] Vgl. Goßens, Peter: Weltliteratur. 2011. S.11.
[11] Vgl. Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. 2017. S.216.
[12] Vgl. Scholl, Joachim: 50 Jahre LGBT, unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/50-jahre-lgbt-homosexualitaet-und-literatur-weniger.1270.de.html?dram:article_id=452444 (abgerufen: 08.07.2019).
[13] Vgl. Bose, Brinda: Notes on Queer Politics in South Asia and Its Diaspora. In: The Cambridge History of Gay and Lesbian Literature. 2014. S.503.
[14] Vgl. Baer, Brian James: Translation and the Making of Modern Russian Literature. 2016. S.137f.
[15] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto? In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.267.
[16] Vgl. o.A: Prize Winners by Category, unter:https://www.pulitzer.org/prize-winners-by-category/219 (abgerufen: 08.07.2019).
[17] Vgl. Hicklin, Aaron: How These Man Booker Prize Winners Use Fiction to Explore the Conflicts & Contradictions of Class, Sex, and Race, unter: https://www.out.com/out-exclusives/2018/5/24/how-these-man-booker-prize-winners-use-fiction-explore-conflicts-class-sex-and-race (abgerufen: 08.07.2019).
[18] Vgl. Eribon, Didier: Retour à Reims. 2009. S.233.