Wieso greifen wir in einer Bibliothek nach einem bestimmten Buch? Vielleicht lockt uns der Titel, vielleicht auch die Farbe oder die besonders sorgfältige Aufmachung. Und was ist das ausschlaggebende Argument, damit wir es mitnehmen? Ist es das Versprechen, uns mit einer spannenden Geschichte zu bewegen? Oder reicht womöglich eine kunstvolle Sprache aus? William Beckwith, der Protagonist von Alan Hollinghursts The Swimming-Pool Library, zumindest ist durch und durch Ästhet. Und das trifft nicht nur auf die Wahl seiner Lektüre zu, sondern auch auf die seiner Männer.
Als Trustfund-Kind hat William ausreichend Zeit, die Straßen Londons und die Umkleidekabine und Dusche des Fitnessstudios im Corinthian Club zu cruisen, seiner „library of uncatalogued pleasure“. Das Mitglied Lord Nantwich lernt er allerdings woanders in einer äußerst prekären Situation kennen: mit heraushängendem besten Stück erleidet er an einer Klappe einen Herzinfarkt und muss von William per Mund-zu-Mund-Beatmung gerettet werden. Die beiden werden Freunde und Nantwich bittet William schließlich, anhand seiner Tagebücher seine Biographie zu schreiben. William hat damit nicht nur endlich eine Beschäftigung, sondern erhält Einblick in das Leben schwuler Männer vor der Gay Liberation – und damit auch Einblicke in seine eigene privilegierte Existenz.
2004 hat Alan Hollinghurst für The Line of Beauty den Man Booker Prize gewonnen, ins Scheinwerferlicht der literarischen Welt ist er allerdings bereits mit seinem 1988 erschienen Debüt The Swimming-Pool Library getreten. Vermutlich auch, weil er als Literaturredakteur der Times Literary Supplement und als Dozent der Oxford University eine gewisse Respektabilität ausstrahlte und es nicht möglich war, ihn in den Topf der schwulen Schriftsteller zu werfen. Trotz seiner vielen (zumindest für damalige Verhältnisse) expliziten Sexszenen. Schwule Literatur war damals – mehr als noch heute! –nur für das Ghetto der schwulen Subkultur interessant. So die Literaturkritik.
Und so gilt The Swimming-Pool Library als Klassiker der schwulen Literatur und als einer der ersten, der das Leben schwuler Männer in England beschreibt. Aber vielleicht sollte hier eine kleine Einschränkung gemacht werden, denn es ist das Leben der schwulen weißen Oberschicht, die William hier mit seinen eigenen Worten beschreibt. Sein Blick fällt auch immer wieder auf schwarze Männer, auf Männer der Arbeiterschicht, doch es ist ein sexualisierter und gleichzeitig romantisierter Blick.
Das erinnert an die Literatur E. M. Forsters, deren Figuren man in Maurice oder auch Passage to India ein echtes Faible für dunkelhäutige Männer oder Männer der Arbeiterschicht attestieren kann. E.M. Forster spielt dann konsequenterweise auch immer wieder eine Rolle im Roman. Die Motive Forster ziehen sich dann auch durch Lord Nantwichs Tagebücher, in denen er seine Zeit als Kolonialbeamter im Sudan und in Ägypten beschreibt und die Freiheit, die er in diesen exotischen Teilen der Welt mit ihren sexuell freizügigen Männern erlebt. Auch dass keine einzige Frau im Roman – bis auf ein kurzes Telefonat zwischen William und seiner Schwester – direkt auftaucht ist bezeichnend. Es sind noch echte Männerbünde, die hier das Leben der schwulen Subkultur ausmachen. Besonders herrlich: In einer Szene sinniert ein heterosexueller Mann darüber, ob die Oper Billy Budd mit ein paar Mädchen im Hintergrund weniger anstößig wäre. Was Hollinghursts Roman auch auszeichnet, ist, dass er sich nicht davor scheut, die Perspektive auf die hässlichen Aspekte der schwulen Geschichte zu richten.
Als William sich in den jüngeren Phil zu verlieben meint, sieht er in dessen Augen natürlich nur eins: sich selbst. Die erotischen, aber durchaus austauschbaren, Begegnungen mit den unterschiedlichsten Männern haben – so wie eine Bibliothek – etwas von einer Liste. Seinen ästhetischen Ansprüchen entsprechend, enthält Williams Erzählung wenig Handlung, dafür viele Beschreibungen. Selbst als William von einer Gruppe homophober Männer zusammengeschlagen wird, versteckt er sich nur seines entstellten Gesichts wegen für mehrere Wochen in seiner Wohnung. Dem Roman ist vorgeworfen worden, immer dann eine Sexszene einzuwerfen, wenn es langweilig werden könnte. Auch das entspricht Williams Charakter und ist Kalkül. Sowohl William als auch Lord Nantwich können als Figuren nur konturlos bleiben, weil – und darüber lässt sich streiten – sie sich selbst ihrer Form berauben von ihrer Umgebung dazu gezwungen werden.
The Swimming-Pool Library nimmt viel von dem vorweg, was in den 90er Jahren die Popliteratur dominieren wird. Wenig verwunderlich ist da, dass der Schriftsteller Ronald Firbank, den Susan Sontag in Notes on Camp zu einem der Autoren des Camps erklärt hat, immer wieder von William erwähnt wird. Im Gegensatz zu den Vertretern der späteren Popliteratur ist Hollinghurst seinen Figuren gegenüber aber um einiges empathischer. „He was looking forward then, keeping up his body like a store, a guarantee of his place in the future.“, kommentiert William das narzisstisch anmutende Training der Männer im Corinthian Club. Es sind diese kleinen Beobachtungen, die aus dem Buch mehr als eine spitzzüngige Satire auf das Karussell der Eitelkeiten machen.
The Swimming-Pool Library spielt im Sommer 1983, dem letzten Sommer bevor AIDS dem bisherigen Leben dieser Männer ein Ende bereiten wird. Und so mutet dem Roman eine gewisse Wehmut an, so als spürten William und Lord Nantwich bereits, dass ihre neu gewonnene Freiheit nicht für immer anhalten kann, dass trotz allen Fortschritts irgendetwas verloren gehen muss.