Ein Blick durchs Schlüsselloch und mit einem Mal ist die Welt eine andere. Rasas Großmutter hat ihn und seinen Liebhaber im Bett gesehen und damit sein schreckliches Geheimnis an die Oberfläche gebracht. Vielleicht hat sich die Welt Rasas aber auch mit dem Arabischen Frühling geändert. Oder mit dem Verschwinden der Mutter und dem Tod des Vaters vor vielen Jahren.
Über 24 Stunden hinweg erzählt Saleem Haddad in seinem Debütroman Guapa aus dem Leben von Rasa. Seine Biografie ist von Brüchen geprägt – genau wie die seines Autors. Saleem Haddad, geboren in Kuwait-Stadt, ist Sohn einer irakisch-deutschen Mutter und eines libanesisch-palästinensischen Vaters. In welchem arabischen Land genau Guapa spielt, verrät er seinen LeserInnen nicht. Aber welche Rolle spielen Namen auch in einer globalen Welt, in der sich Grenzen ständig verschieben und Nationen von einem Tag auf den anderen aufhören können zu existieren?
Auch Rasa ist ein Grenzgänger, ein Übersetzer sich fremder Welten. Er ist schwul in einem muslimischen Land, sein Leben findet zwischen Scham und queeren Untergrund statt. Erst in der Fremde, als Student in den USA begreift er, was es bedeutet, Araber zu sein, welche Macht der Wechsel zwischen den Sprachen haben kann. Aber für die einen ist er zu amerikanisch, für die anderen zu arabisch.
Guapa verhandelt schwere Themen: Religion und Islamismus, Identität, Scham und Homosexualität. Haddads Stärke ist, dass er keine konkreten Antworten geben will. Stattdessen zeigt er die Lebensrealität seiner Figur, die sich mit all diesen Fragen konfrontiert sieht und um Antworten ringt.
Interessanterweise stellt sich manchem Kritiker die Frage, ob Guapa ein politisches Buch sei. Sich diese Frage überhaupt stellen zu können, setzt ein gewisses Privileg voraus. Und das trifft auch auf Roxanne Gays Beobachtung zu, dass der Roman zu didaktisch sei (zu lesen auf Goodreads).
In Chimamanda Ngozi Adichies Roman Americanah beschwert sich die Protagonistin Ifemelu nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatland Nigeria darüber, dass es keine frischen Lebensmittel gibt – alles, was sie findet, sind Tiefkühlwaren. Sie muss erst darauf hingewiesen werden, dass ökonomischer Wohlstand gewisse Phasen durchläuft und zeitversetzt in Nigeria angekommen ist. Allegorisch könnte diese Szene fast für Literatur stehen, die einen emanzipatorischen Anspruch erhebt. Viele Nationen sind von ihrer kolonialen Geschichte geprägt, erst im Zuge des westlichen Einflusses wurde es für ihre lange Zeit unmöglich, über Themen wie Homosexualität zu sprechen. Sich über den didaktischen Charakter von Guapa zu wundern, setzt eine koloniale Perspektive voraus. Genau wie in der Abkehr von Didaktik und Politik so etwas wie Fortschritt zu erkennen. Die koloniale Perspektive ganz einfach abzulegen ist vermutlich – auch für mich – nicht möglich. Dafür sind wir zu sehr von unseren Vorstellungen geprägt, wie die Welt auszusehen hat und wie sie hierarchisiert ist. Bücher wie Guapa ermöglichen es aber, unsere Perspektive zu öffnen. Vollkommen unabhängig von dieser Diskussion ist Saleem Haddad aber auch ein gekonnter Erzähler, der eine mitreißende Geschichte erzählt.
Wie begegnet man einer Welt, die aus den Fugen gerät? Auf diese Frage gibt Guapa dann doch eine konkrete Antwort: Egal, was man auch tut, man darf nicht in Apathie verfallen. Und diese Lektion lasse ich mir immer wieder gerne beibringen.