Enrico Ippolito – Was rot war

Was rot war 01

Bisher lautete ihre Geschichte so: Meine Eltern hatten sich in der kommunistischen Schule bei Rom kennengelernt, meine Mutter wollte sich auf keinen Fall in einen Mann verlieben und hat es trotzdem getan, bald darauf Heirat, Umzug nach Köln, Kinder. Fertig. Aber von einer Frau, die im Leben meiner Mutter eine Rolle spielte, hatte ich nicht gewusst.

Was rot war’, der Debütroman von Enrico Ippolito, erzählt von der Freundschaft zweier Frauen zwischen Palermo, Rom und Köln, eine Geschichte, die sich von den 70er Jahren bis in die Gegenwart erstreckt und von den politischen Umbrüchen dieser Zeit geformt wird. Es ist aber auch die Geschichte von Rocco, dem Sohn einer dieser Frauen. Ihm ist das Leben seiner Mutter fremd, doch als er bei einem seiner seltenen Besuche in Köln vom Tod einer ihm nicht bekannten Freundin  aus vergangenen Tagen erfährt, wird er mit einem Mal mit der Menschlichkeit der eigenen Eltern konfrontiert – und einer Geschichte, die ihm vielleicht auch etwas über sich selbst verraten wird.

Cruci und Lucia, zwei Frauen wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten als sie ihre Ausbildung an der kommunistischen Schule Frattocchie beginnen: „Der Schule, die Hoffnungsträger zu Funktionärinnen und Funktionären ausbildete und auf die Arbeit in der Parteizentrale vorbereitete.“ Cruci stammt aus einer Arbeiterfamilie in Palermo, dem Süden Italiens, fern vom politischen Geschehen in Rom. Damit sie diese Chance bekommt, damit sie überhaupt zur Schule gehen konnte, mussten ihre Eltern Vieles opfern: „Cruci musste [ihrem Vater] und allen anderen beweisen, dass es richtig gewesen war, auf sie zu setzen. Sie durfte niemanden enttäuschen.“ Lucia hingegen wächst in Rom auf, ihr Vater arbeitet in der kommunistischen Parteizentrale und auch wenn sie sich in ihren politischen Überzeugungen und in der Frage, wer für die Spaltung der Partei verantwortlich ist, nicht einig sind, ist längst entschieden, dass sie die kommunistische Schule besuchen wird.

Trotzdem, als die beiden Frauen an der Schule aufeinandertreffen, werden sie schnell Freundinnen, die Art von Freundinnen, die ihr Leben für das der jeweils anderen opfern würden. Denn beide setzen sie es sich zum Ziel, die Frauensache innerhalb der kommunistischen Partei voranzutreiben. Sie wollen nicht zu jenen Frauen gehören, die auf die Schule gehen, um sich einen kommunistischen Ehemann zu suchen. Doch ein Verrat führt dazu, dass die einst besten Freundinnen nicht mehr miteinander reden und zu Fremden werden. Was ist passiert?

Enrico Ippolito lotet in ‚Was rot war‘ anhand dieser Freundschaft die Frage aus, was mit Menschen passiert, deren Glaubenssysteme zerbrechen, um die sie ihr gesamtes Leben und ihre gesamte Identität aufgebaut haben, Glaubenssysteme, die für viele wahrscheinlich nicht viel mehr als eine historische Fußnote wert sind. Was passiert, wenn Überzeugung und Machtansprüche aufeinandertreffen und wie schnell erweisen sich diese Überzeugungen im politischen Alltag als Illusionen? Was darf für die eigenen Überzeugungen geopfert werden?

Roccos Kämpfe sind denen der beiden Frauen, von deren Geschichte er nach und nach mehr erfährt, nicht unähnlich. Auch weil er ein schwuler Mann ist. Seine Sexualität präsentiert der Text als Selbstverständlichkeit und stellt schwule Dating Apps wie Scruff, Ausflüge ins queere Viertel am Kolosseum in Rom und in die Betten fremder Männer gleichberechtigt neben kommunistische Streikszenen, politische Diskussionen und den zu Beginn keuschen Beziehungsbeginn Crucis mit Roccos zukünftigem Vater Antonio. Ironischerweise bekräftigt die wiederholte Kritik am Text, welche sich mit Roccos Geschichte schwertut, wieso Ippolito sie der Geschichte der beiden Frauen gegenüberstellt. So wie die beiden bezüglich der ‚Frauensache‘ nicht ernst genommen werden, wird auch queere Kultur als etwas Nebensächliches abgetan, als eine Ablenkung von den Dingen, die wirklich wichtig sind.

Doch bevor Rocco die Geschichte der beiden Frauen kennenlernt, erzählt ‚Was rot war‘ von der Schuld eines Sohnes, der von zu Hause floh „das Berliner Klischee lebte und in den dunklen Kellern verschwand, [s]ich an den Körpern anderer Männer berauschte“, während die Mutter nach dem Tod des Vaters allein in Köln zurückbleibt. Rocco weiß nicht, warum seine Eltern nach Deutschland gekommen sind, die Geschichte ihrer Migration hat ihn nicht interessiert, auch seine Eltern haben wenig erzählt: „Es ist eine Erzählung der Ellipsen.“ Seine offenen Fragen bezeugen auch von einem Generationskonflikt, von dem Unwillen der jüngeren Generation von der älteren zu lernen, ihre Konflikte und Kämpfe anzuerkennen und von ihr zu lernen, um nicht die gleichen Fehler noch einmal zu begehen.

Roccos Ignoranz gegenüber der Geschichte seiner Eltern ist in einigen Fällen die gleiche Ignoranz, mit der Leser*innen das Buch aufschlagen. Für viele – das wird auch der aktuellen politischen Lage in Italien geschuldet sein – ist die Geschichte Italiens die Geschichte des Faschismus. Doch wie viele erinnern sich heute noch daran, dass der Kommunismus für eine Zeit eine ernstzunehmende Kraft im Land gewesen ist? Darüber hinaus zeigt der Text in einer kurzen aber beeindruckenden Szene, dass es in Deutschland seit jeher Solidarität zwischen Migrant*innen „aus der Türkei, aus Griechenland, Spanien, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien, Italien, von überall her“ gegeben hat. Doch bei einem seiner Spaziergänge durch die Bonner Straße in Köln muss auch Rocco feststellen, dass sowohl die persönlichen als auch die politischen Spuren dieser Menschen der Gentrifizierung weichen mussten.

Was rot war‘ von Enrico Ippolito erzählt anhand einer menschlichen Geschichte von den Verstrickungen der Vergangenheit und der Gegenwart und davon, wie schnell Gewissheiten und Überzeugungen auf die Probe gestellt werden können. Kritisieren mag man an diesem rundum gelungenen Debütroman einzig, dass man gerne ein paar hundert Seiten mehr mit seinen Figuren verbringen würde.

Enrico Ippolito ist Journalist und Autor. Er ist mit einem Beitrag in der Anthologie ‚Eure Heimat ist unser Alptraum‘ vertreten, außerdem ist er Mitherausgeber des Delfi Magazins für neue Literatur. ‚Was rot war‘ ist sein Debütroman.

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