„Deshalb ist diese Geschichte, die ihr jetzt lest, eine Geschichte von großen, schönen Männern, von Romanhelden, rauh und erhaben. Es ist die atemlose Erzählung unserer Begegnung und ihrer Intensität, die uns zwölf Monate lang gefangen hielt. Für meine Freunde will ich das Beste. Ihnen zuliebe, den Hochgewachsenen, erinnere ich mich an diese Geschichte, die einmal war und jetzt nicht mehr ist. Zu Ehren des ruhmreichen und schwulen April 1980, von dem ich nun erzählen will.“
‚PAO PAO: Gruppenbild mit Mann. Eine römische Geschichte‘ (aus dem Italienischen von Christoph Klimke und Castor Seibel) ist der zweite Roman des italienischen Kultautors Pier Vittorio Tondelli, der im Original 1982 und in deutscher Übersetzung 1989 erschienen ist. In Deutschland ist der 1991 verstorbene Autor größtenteils in Vergessenheit geraten, was sich in den kommenden Monaten aber wohl ändern dürfte. Denn zum einem plant der Gutkind Verlag eine Neuauflage von Tondellis letztem Roman ‚Getrennte Räume‘ und zum anderen arbeitet Luca Guadagnino, der Regisseur von ‚Call Me by Your Name‘ und ‚Challengers‘ an einer Verfilmung eben jenes Textes.
Vom militärischen Drill und Bürokratie erzählt ‚PAO PAO‘, von Tagen zwischen „zwischen Marschieren, Appellen, Generalproben, Theorielektionen, Befragungen, falschen Alarmen, Bombenalarmen und Gewehrgeratter“, aber auch von der Liebe und dem unbändigen Drängen der Jugend nach Freiheit. Es sind 12 Monate im Leben des namenlosen Erzählers oder auch sein kompletter Militärdienst – vom Rekrutenausbildungszentrum in Orvieto bis hin zu seiner Stationierung in einer Kaserne in Rom. Komik und Sentimentalität geben sich die Hand und so ist dem Erzähler von Anfang an klar, dass es ein Jahr der Schmerzen, Entbehrungen und – das ist die Hoffnung der Jugend – der Liebesaffären wird. Es ist ein Jahr wie aus dem Leben gerissen und doch ist „alles dasselbe, ganz identisch“, denn immer „ist es eine Institution, immer sind Leute da, die dich kontrollieren, immer wirst du verantwortlich gemacht, niemals war ich frei und niemals werde ich es sein, die Welt kann im nächsten Monat über dir zusammenstürzen“.
Dem Stumpfsinn des Alltags, der Monotonie, dem Gestank und dem nächtlichen Gefurze gegenüber steht die Vitalität des Erzählers: „[I]ch fühlte ein Feuer der Neugierde und vor allem Lust zu beginnen und einzusteigen, je früher dies geschähe, desto besser; mir zuerst sagen: Dies ist deine Geschichte und nichts auf der Welt kann dich aus ihr herausreißen.“ Freiheit findet er in den Liebschaften mit anderen Soldaten und mit Zivilisten, aber auch in der Erkenntnis, dass „der Militärdienst, zumindest in der ersten Phase, in meine Existenz eindringen [konnte], um wohltuende Bilder und Gefühle loszulösen, völlig vergessene und heute wiedergesehene“. Nicht nur hat der Erzähler ein Proust’sches Erlebnis bezüglich seiner Erinnerungen, die Zeit im Militär und der Terroranschlag auf den Bahnhof Bologna Termini am 02. August 1980 verortet ihn in der Zeit und in der Geschichte. Er „bemerkt, dass auch wir dabei sind, älter zu werden, dass auch wir Stücke tragischer Geschichte in uns tragen, die wir Stunde um Stunde in uns vollziehen, fortdauern, schwinden und in der Erinnerung mit allem Wechselspiel haben ablagern sehen.“
Sicherlich kann man ‚PAO PAO‘ eine gewisse Oberflächlichkeit vorwerfen, eine Oberflächlichkeit, der sich auch Tondelli auf sein schriftstellerisches Werk rückblickend bewusst war. Doch 1982 war Tondelli noch nicht gezwungen, sein Innerstes zu erforschen und die großen Entscheidungen seines Lebens zu hinterfragen, wie er es später in ‚Getrennte Räume‘ im Angesicht seiner AIDS-Diagnose getan hat. Nicht umsonst hatte der Schriftsteller den Ruf, einer Kamera gleich die italienische Jugendkultur der 1980er Jahre zu beschreiben, wie er es in seinem Debüt, dem Episodenroman ‚Andere Freiheiten‘ (aus dem Italienischen von Christoph Klimke unter Mitarbeit von Rüdiger Oetke), und auch in ‚Un weekend postmoderno: Cronache dagli anni ottanta‘ (auf deutsch in etwa: Ein postmodernes Wochenende: Chroniken aus den Achtzigern) getan hat. Doch in ‚PAO PAO‘ ist die Perspektive mehr als ein Blick durch die Kamera, war Tondelli doch selbst erst 1981 zum Wehrdienst berufen worden. In seinem Nachruf schrieb Übersetzer Christoph Klimke: „Tondellis Frühwerk lebt vom Lebensgefühl des Jetzt-ist-jetzt-und-ist-vorbei.“
In dieser Oberflächlichkeit steckt dementsprechend auch eine der Stärken des Romans, ist sie doch Ausdruck der Vitalität und Gegenwärtigkeit der beschriebenen Jugend, der Tondelli auch sprachlich Ausdruck verleiht, indem er seine Leser*innen mit langen, verketteten Sätzen atemlos durch die Seiten preschen lässt – selbst wenn die Gedanken seines Protagonisten vom vielen Kiffen vollkommen umnebelt sind.
Der Roman erzählt unaufgeregt, aber doch explizit von Homosexualität: „Ich wollte mich betrinken an seinem Geruch, mich an seine Hüften und seine langen Beine klammern, wollte seine Schulter umfassen, wollte an seiner Brust saugen und sie verschlingen, wollte mich mit Lele vereinen, wollte ihn in meinem Schoß kommen fühlen, wollte in sein ausgebreitetes Kreuz, wollte ihn küssen, mit ihm die Zeit vertreiben, ihn in den Bewegungen der Liebe verwirren, im Zittern, im Stöhnen.“ Sätze wie diese mögen über vierzig Jahre später zahm und sentimental klingen, doch zu ihrer Entstehungszeit waren sie explizit genug, damit Tondellis Texte von den Behörden beschlagnahmt wurden.
Tondelli beschreibt in ‚PAO PAO‘ homosoziale Bünde, in denen Sexualität innerhalb eines zeitlichen Rahmens fluide ist, Machismo und Misogynie aber auch vorherrschen. Ohne explizit zu werden, gibt Tondelli das Verhalten der Soldaten der Lächerlichkeit preis, indem er sie beispielsweise im Gleichschritt wie Ballerinas exerzieren lässt.
‚PAO PAO‘ ist vermutlich schlechter gealtert als andere Werke Tondellis. Nicht unbedingt, weil der Roman so viele misogyne Momente enthält (und ja, auch kritisiert), sondern weil er sie im Kontext von Männerbünden thematisiert, deren Darstellung man in der (queeren) Literatur zuhauf findet. Trotzdem ist Tondellis Sprache von einer Lebendigkeit getrieben, die ihn stets zu einem spannenden und lesenswerten Schriftsteller machen.
Pier Vittorio wurde 1995 in Corregio geboren und studierte in Bologna Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaften (u.a. bei Umberto Eco). Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war er auch als Journalist aktiv, eine Arbeit, die ihn immer wieder nach Berlin führte. Entsprechend seines Interesses an der Jugendkultur kam er hier mit der Punk- und Hausbesetzerszene in Kontakt, über die er auch geschrieben hat. Seine ins Deutsche übersetzten Romane ‚Andere Freiheiten‘, ‚PAO PAO‘, Rimini‘ und ‚Getrennte Zimmer‘ sind aktuell nur antiquarisch erhältlich. Tondelli lebte in Mailand, kehrte aber nach seiner AIDS Infizierung zu seiner Familie nach Corregio zurück, wo 1991 im Alter von gerade einmal 36 Jahren verstorben ist.