Marlon schreibt: Als Leonard Engel weggeht über den Fluss, ist er gerade neunzehn geworden und hat Abitur gemacht. Die Überquerung ist eine Grenzerfahrung. Von der Kindheit zum Erwachsenen, von innen nach außen, vom Lebenden zum Schreibenden, vom Erlebten zur Fiktion, von Mensch zu Engel.
Leonard Engel liebt im Konjunktiv. Die naive Liebe von Marius und Volker, er lässt sie zurück im Heimatdorf Storchenau, dem Ort der Kindheit und der Jugend. Er geht nach Wien, um im Filmstudium zu lernen, in Bildern zu schreiben. Den Stricher Tiago will er vor den Abgrund retten, an dessen Abgrund er selbst ihn führt. Jahre später lernt er in Köln Boris kennen. Ewig diese Distanz, er will sie überwinden.
Über das Schreiben versucht Leonard Engel seiner Vergangenheit und Gegenwart Herr zu werden, sich seinem Innersten zu nähern und diesem eine Form zu geben. Ist tatsächlich etwas passiert, was erklären könnte, warum er ein ewig Suchender ist, warum er die Distanz zu anderen Menschen nicht überwinden kann? Er schreibt, mischt sich immer wieder in seine eigene Geschichte ein, konfrontiert Engel, der er einmal war und noch immer ist. Schreibt was gewesen ist und was nur in seinem Kopf stattgefunden, gibt ihnen mit Worten Form. Seine schriftstellerischen Indiskretionen gesteht er ein.
Sprache stößt hier an seine Grenzen, ist aber auch das Medium, über das Engel und Menschen zusammenfinden können. Es ist der Versuch, dem abstrakten und undefinierbaren Phantomschmerz greifbar zu machen. Zu erklären, warum er in seinem kurzen Leben immer wieder in Kliniken aufwacht, nachdem er sich mit Schlaftabletten vollgestopft oder in die Fluten eines Flusses gestürzt hat. Aber vielleicht sind die Tabletten und die Tiefen der Flüsse lediglich Grenzerfahrungen, der Versuch in ein Leben zu finden, in dem er atmen kann.
Was ist passiert? Am Ende von Gunther Geltingers Debütroman Mensch Engel (2008) lässt sich die Antwort auf diese Frage nur erahnen, die tatsächlichen Ereignisse bekommen kaum Form. Doch wie auch seine beiden Romane Moor (2013) und Benzin (2019) zeigt der Roman, mit welcher Sprachmacht, mit was für einem Netz aus Worten sich die innersten Vorgänge einer Figur an die Oberfläche holen lassen.
Nun, nach der Lektüre aller drei Romane von Gunther Geltinger, auf einen vierten wartend, stelle ich mir vor, wie er, genau wie seine Figur Leonard Engel, die Hände hebt, den Blick senkt, tief Luft holt und schreibt:
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