Was kann ich noch Neues sagen zu Call Me by Your Name, einem Roman, der bereits 2007 erschienen ist und spätestens mit der Oscar-nominierten Verfilmung von 2017 durch Luca Guadagnino den Mainstream erreicht hat? Wahrscheinlich nicht viel – bis auf das, was dieser Roman mir persönlich bedeutet.
2008 bin ich durch die örtliche Buchhandlung geschlichen, in der Hoffnung, auf ein Buch zu stoßen, in dem ich mich selbst wiederfinden würde. Damals, zumindest ist es mir so ergangen, war eine Sommerliebe (denn mehr als ein Sommer schien nicht möglich zu sein, ich wollte mich selbst in meinen Gedanken mit ein paar Monaten zufriedengeben) reine Wunschvorstellung. Die Welt war mir und meinem Begehren feindlich gesinnt. Aber irgendwo auf dieser großen, weiten Welt musste es doch einen Roman geben, in dem ein schwuler Mann im Mittelpunkt steht, in dem meine Wunschvorstellung wenigstens eine Möglichkeit war! Natürlich, 2008 gab es schon die ersten homosexuellen Charaktere in Fernsehserien, die keine bloßen Abziehbilder waren und Google war auch schon erfunden. Doch das reichte mir nicht aus – ich wollte auf dieses eine schicksalhafte Buch stoßen, indem ich wie sonst auch meine Hand ausstreckte, meine Neugierde geweckt entweder vom Buchcover oder vom Titel, und es durch Zufall entdeckte. Und dann, so als hätte mich dieses Buch bei seinem Namen gerufen, stieß ich auf Call Me by Your Name. Das Buch, in der deutschen Übersetzung im Kein & Aber Verlag, zeigt zwei Männer in Badehosen am Strand, wie sie miteinander ringen. Schlägt man das Buch auf und liest den Klappentext, wird kein Hehl daraus gemacht, dass hier die Liebe zwischen zwei Männern im Mittelpunkt steht. Ich kaufe das Buch und verschlang es innerhalb von drei Tagen, eine Zeit, in der ich eigentlich für eine Matheklausur hätte lernen müssen und für die ich letzten Endes eine Fünf Minus kassiert habe.
Geschrieben wurde Call Me by Your Name von André Aciman, einem aus Ägypten stammenden Komparatisten und Proust-Spezialisten. Dass ich später einmal einen ähnlichen Weg einschlagen und Komparatistik studieren sollte, konnte ich damals nicht wissen. Im Rückblick hatte ich wohl gar keine andere Wahl. Hier, in diesen Worten, fand ich nicht nur, wonach ich mich gesehnt hatte und was ich in meiner Realität für unmöglich hielt, sondern auch die ersten zarten Anzeichen für die Suche, die dieser Blog darstellt.
In einer kleinen namenlosen Stadt im nördlichen Italien irgendwann zu Beginn der achtziger Jahre begegnen sich Elio und Oliver. Wie jeden Sommer verbringt der 17-jährige Elio den Sommer mit seiner Familie in deren Sommeranwesen und wie auch sonst jedes Jahr folgt ein Student der Einladung von Elios Vater, um den Sommer über in Ruhe an einem universitären Projekt arbeiten zu können. In diesem Sommer ist es der 24-jährige Harvard-Absolvent Oliver, der sein Manuskript zu Heraklit beenden will. Elio, der seine Freizeit mit Lesen und dem Transkribieren von Musik verbringt und in vielerlei Hinsicht zu klug für sein eigenes Wohl ist, erkennt in Oliver all das, was er begehrt. Unfähig seine Gefühle offen und direkt auszusprechen, verführt Elio Oliver mit seinem literarischen Wissen: „Is it better to speak or to die?“ Diese Frage stellt sich nicht nur der Ritter in einer der Erzählungen aus Königin Margarete von Navarra Heptaméron, sondern auch Elio – eine Frage, die sich vielleicht jede queere Person früher oder später stellt. Paul Celan wird für Elio und Oliver, die beide jüdisch sind, zu einer Geheimsprache: „Zwischen Immer und Nie. Zwischen Immer und Nie. Between always and never.“ Zurückweisung und Verführung geben sich den Wechsel und womöglich ist das Warten und Hoffen in Ewigkeit genauso erfüllend wie der Moment selbst, in dem die beiden endlich zueinander finden.
Voller intertextueller Anspielungen (etwas anderes wäre für einen Komparatisten sicherlich auch nicht möglich gewesen) schafft es der Text, Elio und Oliver etwas Zeitloses zu geben. Die Verbindungen zu den großen Kunstwerken der Antike, Texten von Ovid oder den Gemälden von Monet, verleihen ihrer Liebe etwas Mythisches. Elio und Oliver werden zu zwei schillernden Sternen am Firmament der Ewigkeit. Doch der Text schreckt auch nicht davor zurück, die körperliche Beziehung der beiden zu portraitieren. In einer Szene, die wahrscheinlich bereits einen gewissen Kultstatus besitzt, vergeht sich Elio an einem Pfirsich, den Oliver später vor seinen Augen isst. Die Szene hat etwas Abstoßendes und gleichzeitig droht die Erotik aus den Seiten hervorzuquellen und bewegt. Als Oliver in den Pfirsich beißt, beginnt Elio zu weinen. Er kann nicht glauben, dass jemand ihn so sehr liebt, dass er einen Teil von ihm in sich aufnehmen will.
Das Buch ist auch ein Buch über die Zeit. Viele Jahre später erinnert sich Elio an diesen Sommer, an die erste und vollkommene Liebe, daran, wie diese Liebe sein restliches Leben geprägt hat. Vielleicht auch so wie ein Buch ein Leben prägen kann.
In einer der wohl denkbar schönsten Szenen stellt Elio Oliver seinen persönlichen Rückzugsort vor: „It never occurred to me that I had brought him here not just to show him my little world, but to ask my little world to let him in, so that the place where I came to be alone on summer afternoons would get to know him, judge him, see if he fitted in, take him in, so that I might come back here and remember.“ Und so möchte ich auch ich mich erinnern und vielleicht den einen oder anderen dazu einladen, zurückzublicken auf einen Sommer mit Elio und Oliver zu Beginn der achtziger Jahre irgendwo im Norden von Italien.