3. Kanonformen – 3.1 Der schwule Kanon als Gegenkanon

Der schwule Kanon als Gegenkanon

Seit den 1960er Jahren gibt es Bemühungen, den Kanon der Weltliteratur für Literaturen von Frauen und ethnischen und sexuellen Minderheiten zu öffnen. Während oft darauf hingewiesen wurde, dass „die Kategorien gender und race […] bei Kanonisierungsprozessen eine zentrale Rolle [spielen]“[1] und auch in den Protestbewegungen der späten 1960er Jahre die Gleichstellung von Homosexuellen im Zentrum der Diskussionen stand, gibt es keine Sekundärliteratur, die sich konkret mit den Ausschlussmechanismen von Homosexuellen im literarischen Kanon befasst.

Offensichtlich ist jedoch, dass die unterschiedlichen Fraktionen dieser Protestbewegung relativ ähnlich auf die Frage reagierten, wie und ob ihre Literatur in den bestehenden Kanon integriert werden sollte. Denn anstatt den Kanon der Weltliteratur, der bis zu diesem Zeitpunkt von weißen (heterosexuellen) Männern dominiert wurde, zu erweitern, sind oftmals sogenannte Gegenkanons entstanden. „Ein Gegenkanon ist […] ein meist radikaler Gegenentwurf zu einem als kanonisiert geltenden Textkorpus mit dem Anspruch, dieses entweder wesentlich zu ergänzen […] oder vollständig abzulösen.“[2] Der schwule Kanon erfüllt oft nur Teile dieser Definition. Zum einem ist er kein vollständig radikaler Gegenentwurf, da er auch Werke enthält, die im Kanon der Weltliteratur enthalten sind und diesen auch nicht notwendigerweise ergänzen möchte. Trotzdem steht er für sich allein. Robert Drake schreibt dazu:

Frankly, I stand in firm agreement […] that the Western Canon shoult not be tampered with for reasons of minority bias. The Gay Canon seeks to exist outside the Western Canon, touching upon it only where writers and works are in agreement.[3]

Unabhängig davon, ob das Argument der „minority bias“ in sich schlüssig ist, gibt es gute Gründe, wieso der schwule Kanon – zumindest vorerst – als Gegenkanon konzipiert werden sollte, der für sich allein steht.

So ist eines der Argumente für den schwulen Kanon, dass er „authoritive […] in gay culture“[4] sein soll. Eines der Ziele von schwuler Literatur ist es erklärtermaßen, in den folgenden Punkten unterstützend zu wirken: „the development of gay consciousness, self-understanding, and sense of identity“.“[5] Auch wird ein Kanon definiert als „Korpus an Texten, an dessen Überlieferung eine Gesellschaft oder Kultur interessiert ist“.[6] Es ist davon auszugehen, dass hauptsächlich homosexuelle Männer an einer Literatur interessiert sind, die sich mit der (Sub)kultur der Schwulen und der Identitätsfindung ebenjener sexuellen Minderheit beschäftigt, und diese hauptsächlich rezipieren. Selbst Literatur, die sich schwerpunktmäßig nicht an homosexuelle Männer richtet, wird höchstwahrscheinlich von eben jenen rezipiert und gelesen, da sie sich nicht allein über ihre Sexualität identifizieren wollen, und kann sich dementsprechend in einen Gegenkanon einreihen.

Wie bereits beschrieben, spielen bei der Kanonbildung von schwuler Literatur Anthologien eine wichtige Rolle. Diese wurden von gebildeten homosexuellen Männern zusammengestellt, um anhand von Literatur eine Tradition des homoerotischen Begehrens darzustellen und ihr Empfinden damit zu rechtfertigen. Selbst in den späten neunziger Jahren entsteht Sekundärliteratur zu schwuler Literatur, in denen ihre Autoren erklären: „The present book is one which I wish I had been able to read as an eighteen-year-old embarking on the exploration of literature.“[7] Diese Zusammenstellungen haben dementsprechend ihre eigene Geschichte, sie sind „ein Stück schwuler Geschichte“[8], welche „die Suche nach der eigenen ‚schwulen‘ Geschichte“[9] beschreibt und „sie bedeuten etwas aufgrund der Art und Weise, wie sie strategisch zu einem bestimmten Zeitpunkt wichtig waren und eingesetzt wurden“[10]. Abseits der ideologischen und politischen Gründe, ist aber auch Praktikabilität ein Argument, wieso der schwule Kanon als Gegenkanon konzipiert werden sollte.

In Teaching World Literature führt David Damrosch die zeitlichen Restriktionen als eine der Probleme auf, die bei der Lehre von Weltliteratur anfallen. Um zum Beispiel Dante vollständig verstehen zu können „we should have at least two semesters devoted to him and his immediate contemporaries, ideally sourrounded with a penumbra of courses on Roman and Florentine history, art, religion, and literature.“[11] Die Tradition der schwulen Literatur, wie sie hier nur in Ansätzen beschrieben werden konnte, ist ähnlich komplex. Es macht also nur Sinn, einen Kanon dieser Tradition getrennt zu sammeln, um seiner Literatur den Raum zu geben, den diese benötigt, um in ihrer Fülle beschrieben – und auch gelehrt – werden zu können. Diese eigene Perspektive ermöglicht es auch „to counteract the negative stereotypes and the prejudiced or culturally ill-informed commentaries of the traditionalists, […] a period in which a more or less sustained, commited and concentrated attack takes place.“[12] Ein schwuler Kanon ermöglicht so die Erforschung einer langen Literaturtradition, die in der Form lange von der Forschung ignoriert oder übersehen wurde. Auch ist anzunehmen, dass eine queere Rezeption beziehungsweise Interpretation von beispielsweise Shakespeare und Kafka im Mainstream-Kanon der Weltliteratur keinen Platz hat und hauptsächlich für homosexuelle Leser von Interesse ist. Diese Literaturtradition liegt parallel zu den Literaturen, die den Kanon der Weltliteratur ausmachen. Die schwule Literatur ist „eine andere Tradition, die sich auch als intertextuelles Netzwerk verstehen läßt und deren Beziehungen noch lange nicht in aller Deutlichkeit herausgearbeitet worden sind.“[13] All das setzt natürlich voraus, dass es Literaturwissenschaftler gibt, die sich dieser Aufgabe stellen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein Problem, sondern vielmehr um eine Grundvoraussetzung, die in der Literaturwissenschaft allgegenwärtig ist.

Was die Zielgruppe dieses Kanons eint, ist „der entscheidende gemeinsame Nenner [, dass sie sich] in ihrer Sexualität von anderen soziologisch zu konstruierenden Gruppen unterscheidet.“[14]Vilashini Cooppan schreibt bezüglich des Versuchs ‚das Andere‘ zu lesen:

This is an ethics of reading whose goal cannot be conversion of otherness to sameness, an ethics of reading that must instead choose to stay blocked from that final assimilative moment, at home in the very moment of nonrecognition.[15]

Aus einer ähnlichen Perspektive muss auch die schwule Literatur betrachtet werden, in deren Mittelpunkt oftmals das Leben einer eigenen Subkultur mit eigenen „Ritualen und kulturellen Gepflogenheiten“[16] steht. Der Kanon würde diese Perspektive ermöglichen. Natürlich besteht immer die Gefahr der Ghettoisierung, dass die schwule Literatur noch weiter ins Abseits gerät und von potenziellen Lesern nicht wahrgenommen wird. Allerdings ist kein Kanon für die Ewigkeit geschaffen. Es ist also durchaus denkbar, dass mit ausreichend Zeit und intensiver Arbeit Teile des schwulen Kanons irgendwann in den Mainstream-Kanon übersiedeln, diesen modifizieren, unterwandern und erweitern.[17] Oder auch wie Mark Lilly treffend zusammenfasst: „Once the value of minority experiences is understood and valued, academic separatism can wither on the vine.“[18]


[1] Vgl. Rippl, Gabriele u. Straub, Julia: Zentrum und Peripherie: Kanon und Macht (Gender, Race, Postcolonialism). In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.110. (Hervorhebung im Original).

[2] Vgl. Beilein, Matthias: Deskriptive Kanontheorien. In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.70.

[3] Vgl. Drake, Robert: The Gay Canon. 1998. S.XVf.

[4] Vgl. Ebd. S.XV.

[5] Vgl. Brookes, Les: Gay Male Fiction Since Stonewall. 2009. S.1.

[6] Vgl. Winko, Simone: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Literarische Kanonbildung. Hrsg. v. Arnold, Heinz Ludwig u. Korte, Hermann. München: edition text + kritik, 2002. S.9.

[7] Hammond, Paul: Love Between Men in English Literature. 1996. S.IX.

[8] Vgl. Keilson-Lauritz, Marita: Die Geschichte der eigenen Geschichte. 1997. S.359.

[9] Vgl. Ebd.

[10] Vgl. Ebd.

[11] Vgl. Damrosch, David: Introduction. All the World in the Time. In: Teaching World Literature. New York. 2009. S.7.

[12] Vgl. Lilly, Mark: Gay Men’s Literature in the Twentieth Century. 1993. S.xii.

[13] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto? In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.267.

[14] Vgl. Ebd. S.252.

[15] Vgl. Cooppan, Vilashini: The Ethics of World Literature. Reading Others, Reading Otherwiese. In: Teaching World Literature. 2009. S.38.

[16] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto? In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.252.

[17] Vgl. Rippl, Gabriele u. Straub, Julia: Zentrum und Peripherie. In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.110.

[18] Lilly, Mark: Gay Men’s Literature in the Twentieth Century.1993. S.xii.

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