Sentimentheken: Ansätze zu einem schwulen Kanon – 1. Einleitung

Sentimentheken - Einleitung

Betrachtet man die unterschiedlichen Ausprägungen des Kanons der Weltliteratur, – denn in der Literaturwissenschaft geht man mittlerweile mehrheitlich von einer Kanonpluralität aus[1] – fällt auf, dass homosexuelle Autoren wie Oscar Wilde, Thomas Mann, Jean Genet und James Baldwin durchaus in eben jenen vertreten sind. Die Frage, ob Homosexuelle nicht nur in der Mitte der Gesellschaft, sondern auch in der Mitte der Literatur angekommen sind, ist durchaus berechtigt. Und darauf aufbauend: Ist ein schwuler Kanon überhaupt noch notwendig oder besteht die Gefahr der „Ghettoisierung“[2]?

Diese Frage ist eng verwandt mit der, an wen sich ‚schwule Literatur‘ überhaupt wenden will: An die breite Öffentlichkeit oder lediglich an ein homosexuelles Publikum? Eine ähnliche Frage musste sich seit den 1960ern die Frauenbewegung stellen, die sich „nicht mehr vom bestehenden, weißen, männlichen Mittelklasse-Kanon repräsentiert sah.“[3] Denn der von ihnen vorgeschlagene Gegenkanon bietet zwar das Potenzial, unbekannte Autorinnen interessierten „Leserinnen und der akademischen Öffentlichkeit“ vorzustellen, es besteht aber ebenso die Gefahr, den von Männern dominierten Kanon unangetastet zu lassen und nur „weiße Frauen der Mittel- und Oberschicht“ zu repräsentieren und damit zur „Ausbildung neuer Ausschlusskriterien“ beizutragen.[4] Kein Wunder also, dass sich die afro-amerikanische Autorin Toni Morrison selbst am Rand und nicht in der Mitte positioniert:

I’m writing for black people […]. I don’t have to apologise or consider myself limited because I don’t [write about white people] – which is not absolutely true, there are lots of white people in my books. The point is not having the white critic sit on your shoulder and approve it” – she refers to the writer James Baldwin talking about “a little white man deep inside of all of us.[5]

Dieses Problem ist auch homosexuellen Autoren bekannt. Der heterosexuelle Schriftsteller John Updike besprach 1999 den Roman The Spell von Alan Hollinghurst im The New Yorker und attestierte diesem „relentlessly gay“ zu sein – Bücher mit heterosexuellen Paaren beschäftigen sich mit „the perpetuation of the species and the ancient, sacralized structures of the family“, während in Hollinghursts Roman mit seinen schwulen Protagonisten „nothing is at stake but self-gratification“.[6] Der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck stellt in Kooperation mit dem SWR, dem WDR und Die Welt Bücher vor, die man gelesen haben sollte, kurz: Er erstellt einen Kanon. Darunter ist unter anderem auch das Monunmentalwerk À la recherche du temps perdu von Marcel Proust. In seinem Artikel erklärt Scheck, wieso ihm das Werk so lange verschlossen blieb: „zu schwul“ ist sein Urteil.[7] Es handelt sich hierbei nur um zwei Beispiele, die jedoch eine Tendenz zeigen, wie Literatur von homosexuellen Männern mit homosexuellem Inhalt von der Literaturkritik besprochen wird, selbst wenn es sich dabei um unbestreitbare Klassiker der Weltliteratur handelt. Es ist nicht zu vernachlässigen, was für ein wichtiges Instrumentarium die Literaturkritik für die Kanonentstehung und -dynamik darstellt.[8]

Kurzum: Trotz aller gesellschaftlichen Fortschritte ist die schwule Literatur nicht in der Mitte angekommen. Dementsprechend hat Robert Drake seinen Versuch eines Gegenkanons The Gay Canon den Untertitel ‚Great Books Every Gay Man Should Read‘ gegeben. Das Zielpublikum sind also schwule Männer. Doch zu welchem Zweck?

The Gay Canon seeks to provide readers in general with a user-friendly tool thorugh which to understand and consider their culture. It is a device that explains past and present – gay history, gay hopes, gay mundanities, gay marvels […].[9]

Ähnlich beschreibt der Soziologe Didier Eribon, wie ihn die Ressourcen der schwulen Subkultur, das Cruisen, gerettet haben:

Beim schwulen Cruisen vermischen sich bis zu einem gewissen Grad die sozialen Klassen. Man trifft auf Leute, mit denen man außerhalb dieses Kontexts wohl niemals Umgang hätte, weil sie aus ganz anderen Milieus kommen und einen ganz anderen Hintergrund haben. Diese Mischung ermöglicht Solidarität und Formen der Hilfe, die einem als solche gar nicht bewusst sind, ganz ähnlich wie bei der oben beschriebenen Überlieferung der schwulen Kultur.[10]

Eine dieser Ressourcen der schwulen Subkultur ist auch die Literatur, die, wie Eribon beschreibt, „eine entscheidende Stütze für die Arbeit an meinem Selbst, für meine Neuerfindung und Neuformulierung“[11] für ihn darstellten. Didier Eribon nennt diese Bibliotheken Sentimentheken, „die Sammlung jener Bücher […], die uns in mehr als einem Sinn etwas bedeuten und die uns in unserem inneren Kampf mit der Herrschaft bestärken“[12].

Das Verorten in der Welt, in einer Gesellschaft bzw. Subkultur und die Bildung einer stabilen Identität sind also wichtige Merkmale schwuler Literatur und ihrer Funktion. Das ist auch durchaus ein Motiv, welches diese reflektiert. Der Roman At Swim, Two Boys von Jamie O’Neill verortet dieses Bedürfnis in der Vergangenheit. Der Roman ist in Irland zwischen 1916 und 1917 angesiedelt und beschreibt die aufkeimende Liebe zwischen den beiden Jungen Jack und Doyler, während sie in die Wirren des aufkommenden Osteraufstandes gegen die englische Kolonialherrschaft verwickelt werden. Die Figur MacMurrough versucht für die Gefühle der beiden eine Sprache zu finden:

Help these boys build a nation their own. Ransack the histories for clues to their past. Plunder the literatures for words they can speak. And should you encounter an ancient tribe whose customs, however dimly, cast light on their hearts, tell them that tale; and you shall name the unspeakable names of your kind and in that naming, in each such telling, they will falter a step to the light.[13]

Diese Szene, in der ein ausgebildeter Mann mythologische und historische Texte der Vergangenheit nach Hinweisen der eigenen Geschichte durchsucht, kann exemplarisch dafür stehen, wie der Kanonisierungsprozess von schwuler Literatur zum einem begonnen hat und zum anderen was dieser bezwecken sollte. Zuerst einmal muss jedoch gesagt sein, dass es nicht den einen Kanon schwuler Literatur gibt und dass sich die verschiedenen Ausprägungen zumeist an den jeweiligen Nationalliteraturen orientieren.[14] Diese wurden zu Beginn von Männern konstruiert, bestehend aus Listen von historischen und mythologischen Figuren „who felt the same way as they did“.[15] So wurde eine schwule Literaturtradition konstruiert, welche, im Angesicht gesellschaftlicher und moralischer Diskriminierung und den damit einhergehenden Ausschlussmechanismen, diesen Männern ein Gefühl der Bestätigung und der Selbstachtung geben konnte.[16] Homosexualität war in diesem Sinne „not as a circumstantial matter of passing sexual whim, but […] a shared condition and identity, rais[ing] the intriguing possibility of homosexual culture, or at least of a minority subculture with sexual identity as its base.“[17] Somit sind auch bereits viele der Fragen beantwortet, die zu Beginn einer Kanonkonstruktion gestellt werden müssen:

[I]n the name of what values, aesthetic or otherwise, and in view of what social purposes, is a canon authorized, or become authoritive enough, to select and propose its ‚best‘ or ‚great‘ books such as to claim world-wide resonance or viability?[18]

Die Bildung einer Gruppenidentität und deren Geschichte steht also im Vordergrund des schwulen Kanons und seiner Literatur – sowohl in seinen bisherigen Ausprägungen als auch in der vorliegenden Arbeit. Und auch wenn die Einschätzung, dass homosexuelle Männer sich daran erkennen, „welche Autoren und Werke sie im Bücherregal haben“[19], eher zum Schmunzeln einlädt, besteht doch die Hoffnung, dass der Kanon der schwulen Literatur, homosexuellen Männern dabei hilft, sich selbst zu erkennen. Wie und ob überhaupt ästhetische Maßstäbe im Prozess der Kanonbildung schwuler Literatur eine tragende Rolle spielen, bleibt in dieser Arbeit zu klären. Auch weil es keine „umfassende Kanontheorie gibt“[20] und „abhängig von den Intentionen unterschiedliche Modelle zur Darstellung der je eigenen Forschungsziele zur Verfügung“[21] stehen, muss sich der schwule Kanon nicht an einem Modell orientieren, sondern sich die Aspekte zu eigen machen, die seinem Ziel dienen. An dieser Stelle ist es auch sinnvoll, die Frage zu beantworten, wieso ein Kanon einer sexuellen Minderheit so exklusiv ist und sich nicht lesbischer beziehungsweise queerer[22] Literatur in seiner Gesamtheit öffnen will. Das hat vor allem sehr praktische Gründe. Literaturwissenschaftler beschreiben das Unternehmen, die vollständige Literaturgeschichte der schwulen Literatur widerzugeben, als beinahe unmöglich.[23] Lesbische und queere Literatur an dieser Stelle zu berücksichtigen, würde bedeuten, Literaturen mit einer jeweils eigenen Tradition gleichzustellen, die unter anderem auch unter vollkommen unterschiedlichen politischen und sozialen Voraussetzungen entstanden sind.[24] Diese ökonomische, wenn auch nicht umfassende, Vorgehensweise ermöglicht es, zumindest ein Thema in der Tiefe zu erforschen. Unabhängig davon, dass diese Arbeit sich dazu verschrieben hat, die Kanonbildung von schwuler Literatur in Ansätzen darzustellen, kann diese Arbeit nicht als abgeschlossen gelten. Denn die Werte einer Kultur sind nicht universell, sondern werden von jeder Generation neu bewertet. Das trifft auch auf die schwule (Sub)kultur zu. Kanones als stabilisierendes Medium einer Gesellschaft oder Kultur fungieren immer als Speicher dieser Werte, mögen sie nun moralischer oder ästhetischer Natur sein.[25] Der schwule Kanon ist dementsprechend „the beginning of a work hopefully impossible to complete.“[26]

Die erste Frage, die sich stellt: Was ist schwule Literatur überhaupt? Oder auch: Was gehört in den Kanon der schwulen Literatur? In Kapitel II wird zum einem die schwule Literaturgeschichte vor dem Wort Homosexualität betrachtet und inwiefern diese durch die Leserrezeption konstruiert wurde, zum anderen wird untersucht, wie die schwule Literatur zur Verständigung nach außen einen didaktischen Charakter angenommen und zur Selbstverständigung nach innen mit sozialistisch-realistischen Ansprüchen operiert hat. Dabei spielt auch durchaus das Selbstverständnis der Autoren eine Rolle, ob sie sich als schwule Autoren verstanden wissen wollen oder nicht und an welche Zielpublikum sich ihre Texte richten sollen. Mit der Bezeichnung „Queering the Canon“ wird im Anschluss von Kapitel II untersucht, wie bereits kanonische Texte aus einer für homosexuelle Leser interessanten Perspektive neu interpretiert werden, einmal mit einer biographischen Ausrichtung und einmal mit einer rein textinternen.

In Kapitel III werden die verschiedenen Kanonformen vorgestellt, welche der schwule Kanon in sich vereint: Der Gegenkanon, der Kanon des kulturellen Gedächtnisses und der Kanon der Klassiker. Ein Blick auf den schwulen Kanon in den Sozialen Medien als Abschluss des Kapitels zeigt, wie diese unterschiedlichen Formen in Ansätzen in einer relativ demokratischen Form vereint werden können.

Die besonderen Herausforderungen des schwulen Kanons werden in Kapitel IV präsentiert. An erster Stelle ist hier die Zensur zu nennen. Einerseits die Selbstzensur durch Autoren, die das Thema der Homosexualität mit verschiedenen Masken verdeckt haben, Masken, die für zeitgenössische Leser oft nicht mehr als solche zu erkennen sind, wodurch es ihnen schwer fällt, schwule Literatur überhaupt als solche zu erkennen. Darüber hinaus spielen die Zensurmaßnahmen durch die Literaturkritik, Literaturwissenschaft und die Produzenten von Literatur eine enorme Rolle. Auch weil es weltweit noch immer Länder gibt, in denen die rechtliche Lage von Homosexuellen äußerst prekär ist – und somit auch die Situation der Literatur – werden die Zensurmaßnahmen schwuler Literatur in Russland in einem kurzen Überblick vorgestellt. In diesem Sinne werden auch die Herausforderungen der Kanonbildung von schwuler Literatur im Angesicht der Globalisierung vorgestellt. Das Fazit ist nicht nur als Zusammenfassung der Ergebnisse zu verstehen. Gerade weil die Mechanismen, die zur Bildung eines schwulen Kanons beitragen, nur in Ansätzen vorgestellt werden können, ist es auch als Ausblick der noch anstehenden Aufgaben zu verstehen.


[1] Vgl. Rippl, Gabriele u. Straub, Julia: Zentrum und Peripherie: Kanon und Macht (Gender, Race, Postcolonialism). In: Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Hrsg. v. Gabriele Rippl u. Sabine Winko. Stuttgart: Metzler, 2013. S.112.

[2] Vgl. Naguschewski, Dirk: Von der Gesellschaft ins Ghetto? Guillaume Dustan und die Schwule Literatur in Frankreich. In: Sehen Lesen Begehren. Homosexualität in französischer Literatur und Kultur. Hrsg. v. Dirk Naguschewski u. Sabine Schrader.  Berlin: Verlag Walter Frey, 2001. (=Gender Studies Romanistik; Bnd. 6). S.251-271. Dirk Naguschewski zeigt am Beispiel der französischen Gegenwartsliteratur, wie unterschiedlich homosexuelle Autoren dazu stehen, als „écrivain gai“ betitelt zu werden bzw. in das Genre der „Littérature homosexuelle“ eingeordnet zu werden und ihre Texte in homosexuellen Nischenverlagen zu veröffentlichen.

[3] Vgl. Rippl, Gabriele u. Straub, Julia: Zentrum und Peripherie: Kanon und Macht (Gender, Race, Postcolonialism). In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013.   2013. S.112.

[4] Vgl. Ebd. S.114f.

[5] Vgl. Hoby, Hermione: Interview. Toni Morrison: ‘I’m writing for black people … I don’t have to apologise’, unter:https://www.theguardian.com/books/2015/apr/25/toni-morrison-books-interview-god-help-the-child (abgerufen: 14.03.2019) (Auslassung im Original).

[6] Vgl. Updike, John: A Same-Sex Idyll, unter: https://www.newyorker.com/magazine/1999/05/31/a-same-sex-idyll (abgerufen: 14.03.2019).

[7] Vgl. Scheck, Denis: Marcel Proust. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, unter: https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_literatur/article177254392/Schecks-Kanon-Marcel-Proust-Auf-der-Suche-nach-der-verlorenen-Zeit.html (abgerufen: 14.03.2019).

[8] Vgl. Anz, Thomas: Literaturkritik und Rezensionskultur in Deutschland. In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.146-153.

[9] Vgl. Drake, Robert: The Gay Canon. Great Books Every Gay Man Should Read. New York: Anchor Books, 1998. S.XX. (Hervorhebung durch Verfasser).

[10] Vgl Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Berlin: edition suhrkamp, 2017. S.213.

[11] Vgl. ebd. S.216.

[12] Vgl. ebd. S.215.

[13] O’Neill, Jamie: At Swim, Two Boys. London: Scribener, 2017. S.329.

[14] Vgl. Busch, Alexandra u. Linck, Dirck: Vorwort. In: Frauenliebe, Männerliebe. Eine lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Portraits. Hrsg. v. Alexander Busch u. Dirck Linck. Stuttgart: Metzler, 1997. S.VI.

[15] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. The Male Tradition. New Haven: Yale University Press, 1999. S.3.

[16] Vgl. Ebd. S.6.

[17] Vgl. Ebd.

[18] Vgl. Carravetta, Peter: The Canon(s) of World Literature. In: The Routledge Companion to World Literature. Hrsg. v. Theo D’haen, David Damrosch u.a. London: Routledge, 2012. S.265.

[19] Vgl. Popp, Wolfgang: Männerliebe. Homosexualität und Literatur. 1992. S.438.

[20] Vgl. Beilein, Matthias: Deskriptive Kanontheorien. In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.71f.

[21] Vgl. Ebd.

[22] Queer ist an dieser Stelle als Sammelbegriff aller sexuellen Identitäten zu verstehen, also „als eine identitätspolitische Kategorie, die sich gegen eine gesetzte (Hetero-)Normalität bzw. gegen Normalisierungsprozesse stemmt, diese unterläuft oder sich ihnen entzieht.“ Vgl. Lehnert, Gertrud: Das Que(e)ren der Texte oder: Taugt Queer als Analysekategorie? In: Literaturen der Welt. Zugänge, Modelle, Analysen eines Konzepts im Übergang. Hrsg. v.  Patricia A. Gwozdz u. Markus Lenz. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2018. S.287.

[23] Vgl. Naguschewski, Dirk u. Schrader, Sabine: Homosexualität – ein Thema der französischen Literatur und ihrer Wissenschaft. In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.10.

[24] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.6.

[25] Vgl. Rippl, Gabriele u. Straub, Julia: Einleitung. In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.2.

[26] Vgl. Drake, Robert: The Gay Canon. 1998. S.XVII.

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