Brave New Voices: Édouard Louis

Brave New Voices: Édouard Louis

Édouard Louis wächst in ärmsten Verhältnissen in der nordfranzösischen Picardie auf. Armut, Alkoholismus, Homophobie und Gewalt bestimmen den Alltag der Menschen, die einen brechen frühzeitig die Schule ab, um in einer der Fabriken zu arbeiten, bis ihre Körper von der Arbeit zugrunde gerichtet sind, die anderen bekommen Kinder, obwohl sie selbst noch welche sind. Doch Louis gelingt, was jemandem wie ihm eigentlich verwehrt bleiben sollte: Er zieht nach Paris und beginnt unter Didier Eribon Soziologie zu studieren – und nutzt das hier erlernte Wissen, um über die Menschen, die er zurückgelassen hat, schreiben. 2014, Louis ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 21 Jahre alt, erscheint sein Debüt ‚Das Ende von Eddy‘. Der Roman schlägt ein wie eine Bombe.

In seinem autofiktionalen Debüt ‚Das Ende von Eddy‘ erzählt Louis von jenen, die unsichtbar sind und für die sich Politik und Gesellschaft nicht interessieren. Gar mit Unglauben reagieren die Medien bei Veröffentlichung darauf, dass es solch eine Form von Armut in Frankreich tatsächlich noch geben soll. Sie stürzen sich auf die Geschichte und identifizieren das Dorf und die einzelnen Personen, die als Vorlage für die Geschichte dienen. Édouard Louis mag darauf bestehen, dass seine Bücher Romane sind, die Öffentlichkeit ist trotzdem an der ‚Wahrhaftigkeit‘ seiner Texte interessiert. Trotzdem, der Voyeurismus der Öffentlichkeit sorgt auch dafür, dass den Vergessenen und Abgehängten Aufmerksamkeit geschenkt wird – und sie mit Édouard Louis jemanden an ihrer Seite haben, der für sie spricht.

Auf das Debüt folgen ‚Im Herzen der Gewalt‘ (2016), ‚Wer hat meinen Vater umgebracht‘ (2018), ‚Die Freiheit einer Frau‘ (2021) und ‚Anleitung ein anderer zu werden‘ (2021). Alle Texte verhandeln Themen wie Klasse, Bildungsungleichheit, Homosexualität, Gewalt in ihren verschiedenen Formen und Männlichkeit. Louis gilt mittlerweile gemeinhin als einer der wichtigsten Verfechter der französischen Arbeiterklasse, am stärksten sind seine Texte aber vor allem dann (meiner Meinung nach), wenn er sich den Widersprüchen dieser Position stellt. Denn seine Texte sind auch Texte über das Scheitern der Sprache. Er spricht für die anderen (zu denen er vor seinem Klassenaufstieg selbst einmal gehörte), dringt aber nicht zu ihnen durch. Sein Sprechen für die anderen gleicht auch immer einem Akt der Gewalt, droht es den Menschen doch einmal mehr ihrer Autonomie zu berauben.

Édouard Louis‘ Texte sind voller Widerhaken: Wut und Scham über die eigene Herkunft, die Erniedrigungen und die Gewalt, die er aufgrund seiner Sexualität erfahren musste, aber auch Wut und Mitgefühl für seine Mitmenschen, welche die Gewalt ihrer prekären Herkunft jeden Tag mit voller Wucht zu spüren bekommen, deren existenzielle Ängste und Sorgen von der Politik ignoriert werden, und die keinen Ausweg aus der Spirale der Armut finden. So beschreibt Louis in dem schmalen Büchlein ‚Wer hat meinen Vater umgebracht‘ eindrucksvoll die verschiedenen Facetten des Vaters, die Gewaltausbrüche und die Homophobie, aber auch Momente der Zärtlichkeit und den körperlichen Zerfall, ermöglicht durch eine gnadenlose Sparpolitik der linken Regierung.

Das Genre Autofiktion ist spätestens seit der Veröffentlichung von ‚Das Ende von Eddy‘ in aller Munde. Natürlich hat Édouard Louis das Genre nicht erfunden und natürlich ist er nicht der erste Autor, der das eigene Leben in Fiktion verwandelt. Die Art und Weise, wie der junge Schriftsteller das eigene Werk angeht – jedes Buch widmet sich verschiedenen Aspekten und Personen seines Lebens – zeigt, dass er sich in einer langen Tradition einreiht und Vieles Vorgängerinnen wie Annie Ernaux schuldet. Dass Louis Texte aber den Diskurs um das Genre Autofiktion maßgeblich geprägt haben, zeigt aber auch, dass es immer wieder junger Stimmen bedarf, die sich bekannter Instrumente und Themen zu eigen machen. Oder wie der Autor selbst schreibt: „[E]iner meiner Freunde sagt, die Kinder würden die Eltern verändern, nicht andersrum.

Für die Reihe Brave New Voices der Ruhrtriennale kommt Édouard Louis für ein Gespräch mit Fatima Khan am 18.08.2024 nach Bochum in die Jahrhunderthalle. Die Reihe versammelt internationale Stimmen der Gegenwartsliteratur und versteht sich als ein poetisches Refugium, in dem verschiedene Autor*innen „über den Prozess des Schreibens sprechen und gesellschaftliche Zustände anhand ihrer Texte kontextualisieren.

Fatima Khan (eine ganz nebenbei wirklich wunderbare Moderatorin, die ich bereits bei einer Lesung mit Kim de l’Horizion erleben durfte) wird sich im Rahmen von Brave New Voices neben Édouard Louis auch mit Sivan Ben Yishai, Hengameh Yaghoobifarah, Fatma Aydemir, Jeremy O. Harris und Cemile Sahin unterhalten. Die Gespräche finden zwischen dem 18.08. und dem 15.09. jeweils sonntags um 12 Uhr in der Jahrhunderthalle in Bochum statt.

Tickets für die verschiedenen Gespräche und alle wichtigen Details findet ihr auf der offiziellen Seite der Ruhetriennale.

Dieser Text ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Ruhrtriennale.

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