Kanones sind einer der Speichermedien für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft oder Kultur. Die Untersuchung des kulturellen Gedächtnisses eröffnet eine „diachrone Dimension“, die es ermöglicht, „bestimmte Inhalte, die für die Identität einer Gruppe überlebenswichtig sind, mithilfe besondere Anstrengungen haltbar gemacht und über Generationen hinweg tradiert werden“, sichtbar zu machen.[1] Kultur wird in diesem Sinne als etwas verstanden, was über Generationen hinweg weitergegeben wird, aber durchaus von der jeweils neuen Generation neu bewertet, angepasst und in Teilen auch vergessen werden kann.[2] So steht keine der neuen Generationen vor der Aufgabe, einen vollkommen Neuanfang wagen zu müssen, sondern sich stattdessen an den Werten ihrer Vorfahren zu orientieren und dabei selbst entscheiden zu können, welche der Werte sie annehmen, weiterentwickeln oder verwerfen möchte. Das kulturelle Gedächtnis bewegt sich auf zwei Ebenen, dem Funktionsgedächtnis und dem Speichergedächtnis. Das Funktionsgedächtnis umfasst „eine[…] enge[…] Auswahl an Personen, Bildern, Texten oder Geschichtsdaten, die aktiv im Bewusstsein und Gedächtnis einer Gesellschaft verankert sind“, während das Speichergedächtnis aus einem „großen, unüberschaubaren Vorrat an Kunst- und Kulturerzeugnissen, der allenfalls für Spezialisten von einer Bedeutung ist“ besteht.[3] In einem Kanon sind die Werte des Funktionsgedächtnisses versammelt.[4]
In den einleiten Kapiteln wurde bereits deutlich, dass sich die Definition von schwuler Literatur auf der einen Seite und Sexualität auf der anderen abhängig von Zeit und Kultur deutlich unterscheiden. So wie sich Ideale und Politik hinsichtlich dieser Thematik ändern, ist auch der Blick in die Vergangenheit ein anderer und diskussionsbedürftig.[5] So steht zum einem zur Diskussion, ob Literatur, die Päderastie darstellt, noch etwas mit den Werten einer modernen (schwulen) Kultur gemeinsam hat – welche sich womöglich auch von solchen Vorurteilen distanzieren will –, zum anderen aber auch, ob sich nicht hauptsächlich Experten mit der Darstellung einer sich radikal gewandelten Sexualität auseinandersetzen wollen. Was der Durchschnittsleser bei der Lektüre solcher Texte vorfinden kann, sind „identifiably shared emotions and […] a documentary glimpse of ‚our‘ sexual history.“[6] Auch wird die immer wieder aufkommende Frage ‚Wer sind wir?‘ einer Gesellschaft beantwortet „durch Verweise auf mythische Ursprünge und Werte, eine verbindliche Überlieferung oder gemeinsame Geschichte.“[7] Auch wenn die Tradition der schwulen Literatur konstruiert ist, bietet sie doch Personen, Ikonen, Texte und Werte, an denen sich die schwule Kultur orientieren kann, um herauszufinden, wie sie ihre Zukunft gestalten möchte. Trotzdem ist davon auszugehen, dass ausgehend von einer aktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, es zu einer Wanderung zwischen dem Funktionsgedächtnis und dem Speichergedächtnis in beide Richtungen kommen wird.
Eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit setzt gewisse Forschungsergebnisse voraus, die in Ansätzen vorhanden sind, aber ausbaubar sind. Wie im Kapitel ‚Queering the Canon‘ deutlich wurde, besteht ein Großteil dieser Recherche aus Archivarbeit, um vergessene Bücher neu zu finden. Es ist durchaus möglich, dass die Ergebnisse dieser Recherche dazu führen, dass der Status dieses Expertenwissens, welches zum „Verständnis historischer Epochen“[8] dient, neu verhandelt werden muss. Werke, die einst – historisch und politisch bedingt – in kleinen Auflagen erschienen sind, könnten also in der Moderne durchaus ein neues und aufgeschlosseneres Publikum finden. Denn auch ökonomische Faktoren bestimmen unter anderem die Kanonizität eines Werkes: „Wer Literatur kauft, bestimmt mit, was als lesenswert gilt.“[9]
Lost Gay Novels. A Reference Guide to Fifty Works from the First Half of the Twentieth Century von Anthony Slide stellt den Versuch da, längst vergriffene Werke in Form von Referenzen für Studenten und Forscher fassbar zu machen. Allerdings wirft die Zusammenstellung wichtige Fragen auf, welche Werke es verdient haben, in das Speichergedächtnis und darüber hinaus in das Funktionsgedächtnis zu wandern. Slide weist darauf hin, dass die Darstellung von Homosexualität in fast allen vorgestellten Werken negativ ausfällt und alle versammelten Autoren aller Wahrscheinlichkeit nach selbst nicht homosexuell waren.[10]
These novels, the majority of which qualify as second-rate literature, are fascinating examples of contemporary prejudices and both the authors‘ and society’s inhibitions. They are worthy of study in relationship to the unapologetic gay fiction of high quality […].[11]
Haben – vermeintlich – heterosexuelle Schriftsteller, welche die Klischees und Vorurteile ihrer Zeit über Homosexualität unreflektiert darstellen, einen Platz im schwulen Kanon verdient, einfach weil sie Zeitdokumente sind? Es ist natürlich nicht zu leugnen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität in dem beschriebenen Zeitraum der Sammlung in vielen Teilen der Welt praktisch nicht vorhanden war. Drogen, Alkohol und ein früher Tod sind wichtige Motive in den Romanen mit homosexuellen Figuren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,[12] während die Mediziner der Zeit homosexuelle Männer pathologisieren. Während die Notwendigkeit „das bürgerliche Leben des 19. und 20. Jahrhunderts (bzw. seine Spiegelung in früheren Epochen) beschreiben [zu] wollen“[13] sich auch auf die homosexuelle Subkultur bezieht, wird die Beschreibung eben jener zumeist dafür verwendet, etwas vollkommen anderes wie Tod, Verfall und Krankheit darzustellen.[14] Es gibt aber auch – vergessene – Schriftsteller der Zeit, die sich dem Thema positiv nähern wie beispielsweise Lucie Delarue-Mardrus.[15] Es entsteht schnell der Eindruck, dass homosexuelle Schriftsteller selbst nur ‚arkadische‘ Literatur geschrieben haben, also Literatur, in der sich ihre homosexuellen Figuren in einen utopischen Rückzugsort verstecken, wo sie geschützt sind von Diskriminierung, Kritik und Angriffen.[16] Dabei gibt es auch genügend Schriftsteller, die sich durchaus damit auseinandergesetzt haben, wie sich die gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung auf ihre homosexuelle Figuren auswirkt – unabhängig davon, wie man diese Darstellung heute finden mag. Zu solchen Autoren gehören Thomas Mann und Marcel Proust. Es ist davon auszugehen, dass Männer mit einem homoerotischen Begehen um einiges empathischer mit dem Thema und ihren Figuren umgehen und sich nicht einzig und allein auf Klischees in ihrer Darstellung verlassen. Ein moderner schwuler Kanon muss sich konsequenterweise den Bedürfnissen seiner Leser anpassen: „[G]iven the effects of homophobia on the production, distribution and evaluation of texts, we are increasingly in charge of our own culture.“[17] Ein Kanon, der unter anderem die Geschichte einer Kultur wiedergeben und dabei gleichzeitig das Gefühl vermitteln möchte, dass sich seine Leser in den Texten in irgendeiner Form wiederfinden, sollte – zumindest in dieser Hinsicht – diejenigen Autoren zu Wort kommen lassen, die differenziert darüber zu berichten wissen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Teil dieser Kultur sind. Das heißt nicht, dass andere Texte es nicht verdient hätten, erforscht oder gelesen zu werden. Aber es ist davon auszugehen, dass homosexuelle Leser diese Texte nicht lesen, um sich in ihnen wiederzufinden und dementsprechend sollten sie kein Teil des schwulen Kanons sein.
[1] Vgl. Assmann, Aleida: Theorien des kulturellen Gedächtnisses. In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.76.
[2] Vgl. Ebd.
[3] Vgl. ebd. S.82.
[4] Vgl. ebd. S.83.
[5] Vgl. Tóibín, Colm: Love in a Dark Time. 2003. S.7.
[6] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.2.
[7] Vgl. Assmann, Aleida: Theorien des kulturellen Gedächtnisses. In: In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.79.
[8] Vgl. Ebd. S.83.
[9] Vgl. Starre, Alexander: Kontextbezogene Modelle. Bildung, Ökonomie, Nation und Identiät als Kanonisierungsfaktoren. In: Handbuch Kanon und Wertung. 2013. S.59.
[10] Vgl. Slide, Anthony: Lost Gay Novels. A Reference Guide to Fifty Works from the First Half of the Twentieth Century. New York: Harrington Park Press, 2003. S.1-3.
[11] Vgl. Ebd. S.1.
[12] Vgl. Ebd.
[13] Vgl. Popp, Wolfgang: Männerliebe. 1992. S.427.
[14] Vgl. Ebd.
[15] Vgl. Naguschewski, Dirk u. Schrader, Sabine: Homosexualität – ein Thema der französischen Literatur und ihrer Wissenschaft. In: Sehen Lesen Begehren. 2001. S.13.
[16] Vgl. Kellog, Stuart.: Introduction. In: Essays on Gay Literature. 1985. S.4.
[17] Vgl. Woods, Gregory: A History of Gay Literature. 1999. S.9.