Unter dem Begriff „Queering the Canon“ lassen sich verschiedene Phänomene zusammenfassen, welche nachfolgend vorgestellt werden. Bereits 1982 hat der Schriftsteller Salman Rushdie in seinem Artikel „The Empire Writes Back with a Vengence“ beschrieben, wie postkoloniale Autoren mit ihren literarischen Texten auf den westlichen Kanon reagieren.[1] Diese Phänomene sind durchaus vergleichbar.
So hat beispielsweise Madeline Miller in ihrem Roman The Song of Achilles die Beziehung zwischen Achilleus und Patroklos als explizit homoerotisch dargestellt,[2] eine Beziehung, die in der Ilias so nicht eindeutig zu belegen ist. Dazu schreibt Miller:
I stole it from Plato! The idea that Patroclus and Achilles were lovers is quite old. Many Greco-Roman authors read their relationship as a romantic one—it was a common and accepted interpretation in the ancient world. We even have a fragment from a lost tragedy of Aeschylus, where Achilles speaks of his and Patroclus‘ ‚frequent kisses.‘ There is a lot of support for their relationship in the text of the Iliad itself, though Homer never makes it explicit.[3]
Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Miller natürlich kein homosexueller Mann ist und dass es sich bei diesem einzelnen Buch lediglich um einen Ansatz handelt ‚zurückzuschreiben‘. Momentan handelt es sich bei dieser Bewegung jedoch noch um die Ausnahme. Zumeist beschreibt der Begriff ‚Queering the Canon‘, kanonische Werke darauf zu untersuchen, wie queer sie tatsächlich sind und dadurch das Verborgene, also das durch Schriftsteller im Text maskierte und/oder durch Literaturkritik und Literaturwissenschaftler verschwiegene, sichtbar zu machen. Dieses Phänomen ist – zumindest in Ansätzen – in verschiedenen Nationalliteraturen zu beobachten und konzentriert sich verstärkt auf biographische Untersuchungen, die Rückschlüsse auf den Text geben sollen. Die Frage, die sich stellt, ist: Warum ist das wichtig? „It matters because as gay readers and writers become more visible and confident, and gay politics more settled and serious, gay history becomes a vital element in gay identity[…].“[4] Darüber hinaus geht es nicht nur darum, die Sexualität eines Schriftstellers zu bestimmen, sondern zu untersuchen, inwiefern sich diese auf sein Schreiben und sein Werk ausgewirkt hat.[5] Dieser Aspekt, darauf weist auch Colm Tóibín hin, wurde oft von Kritikern ignoriert.[6] Das gilt es nun innerhalb des bestehenden Kanons aufzuarbeiten „to transcend the errors of its past.“[7]
Viele homosexuelle Schriftsteller haben, wie bereits in den vorherigen Kapiteln beschrieben, mit unterschiedlichen Maskierungsstrategien ihr Thema verhüllt. Allerdings sind diese Maskeraden für bestimmte Leser teilweise leicht zu durchschauen: „[G]ay readers are especially quick to discover allusions to homosexuality and to crack coded references to it, sometimes so quick that they hear a thump where no apple fell[…].“[8] Der Rückgriff auf Tagebücher und Briefe homosexueller Autoren ist notwendig, um beispielsweise Synonyme[9], die in einer bestimmten Zeit stellvertretend eingesetzt wurden, um Homosexualität zu beschreiben, oder „homosexual lingo“[10] zu untersuchen, die mittlerweile in Vergessenheit geraten sind und daher neue Aufschlüsse bieten.
Der Schriftsteller Hans Christian Andersen hat exemplarisch „für die Erörterung von Grundfragen nach dem Verhältnis von ‚Autor‘ und Text gedient.“[11] Das liegt vor allem daran, dass seine Märchen wenig explizit sind, was die Thematik der Homosexualität betrifft, während er seine Gefühle in seinen Tagebüchern und Briefen relativ offen zur Schau stellte.[12] Die Beziehung zwischen Text und Leben wird aber umso schwieriger, da Andersen in seinen poetischen Texten zum Teil auch auf direkte Zitate aus einer Briefkorrespondenz zurückgriff, das zeichnet sein Werk aus als ein „Genre, dessen Wahrheitsanspruch prekär ist und das von Wunscherfüllungen handelt.“[13] Dementsprechend waren bestimmte Textebenen nur für Eingeweihte erkenntlich. Und auch wenn Andersen seine Gefühle „zu verklären versuchte“[14], haben viele Leser „seine lebenslange Unrast und Zerrissenheit, die Angst vor Demütigung und die Sucht nach Ruhm und Anerkennung“[15] bereits zu Lebzeiten Andersens zu verstehen gewusst. Auch Thomas Mann, dessen homoerotisches Begehren erst durch die Veröffentlichung seiner Tagebücher offiziell bestätigt und damit die teilweisen Neuinterpretation seines Werkes ermöglicht wurde, hat sich in Andersens Märchen wiederfinden können.[16] In seinem Märchen Der Schatten beispielsweise schreibt Andersen:
„Manche Menschen können es nicht vertragen, graues Papier anzufassen, dann wird ihnen übel; anderen geht es durch Mark und Bein, wenn man mit einem Nagel über eine Glasscheibe fährt; ich habe genauso ein Gefühl, wenn ich Sie du zu mir sagen höre, ich fühle mich gleichsam zu Boden gedrückt, auf Grund meiner ersten Stellung bei Ihnen.“[17]
Andersen bedient sich hier an einer Aussage, die Edvard Collin ihm gegenüber in einem Brief gemacht hat, in welchem auch dieser ihm „das vertraulich-freundschaftliche Du zurückweist.“[18] Das Märchen Die kleine Meerjungfrau entsteht als Edvard Collin seine Frau heiratet.[19] Die kleine Meerjungrau muss, um in der Welt des Mannes, den sie liebt, leben zu können, einen Handel mit einer Hexe eingehen, die ihr jedoch drei Bedingungen stellt:
Jeder Schritt, den sie mit diesen Beinen tut, verursacht Schmerzen als ob sie auf Nägeln und Messern ginge; sie verliert die Sprache und kann nur mit ihren schönen Augen sprechen; wenn es ihr nicht gelingt, den Geliebten für sich zu gewinnen, muss sie, bei seiner Hochzeit mit einer anderen, sterben.[20]
Wolfgang Popp vergleicht die Sprachlosigkeit der kleinen Meerjungrau mit dem Homosexuellen, der sein Geheimnis nicht preisgeben kann, „sich in der ‚normalen‘ Gesellschaft wie auf Messern“ bewegt und durch die Ablehnung des Geliebten, wie sie am Ende auch die kleine Meerjungfrau erfährt, eine Art Tod erfährt.[21] Festzuhalten ist aber auch, dass Andersens homoerotisches Begehren scheinbar zu keiner manifesten Beziehung mit anderen Männern geführt hat und er in seinen Tagebüchern auch das erfolglose Werben um – wenn auch bereits verheiratete – Frauen beschreibt.[22] So weist auch Heinrich Detering darauf hin, dass der Begriff der ‚Homosexualität‘ im Falle Andersens eine homoerotische Anziehung durch andere Männer beschreibt, unabhängig davon, ob sie ausgelebt wird oder auch eine Anziehung zu Frauen besteht.[23] In diesem Sinne lässt sich ähnlich über seine Texte, die von seiner Biographie bis hin zum direkten Zitat inspiriert sind. Sein Werk ist deswegen aber nicht auf dieses homoerotische Begehren zu reduzieren. Viele seiner Texte stellen „das Moment des Andersseins“[24] in den Vordergrund. Das Märchen Das hässliche Entlein beispielweise ist vermutlich eher von Andersens Selbstwahrnehmung (und auch das seiner Umwelt) in Bezug auf sein Aussehen inspiriert.[25]
Mit Hans Christian Andersen wurde bereits wichtiger Schritt für die Neuausrichtung des skandinavischen Kanons gemacht. Allerdings muss noch einiges an Archivarbeit geleistet werden, um über weitere potenzielle Autoren eine wissenschaftlich fundierte Aussage treffen zu können,[26] die auf mehr als Wunschdenken beziehungsweise grundloser Projektionen beruht.
Ähnliche Bemühungen gibt es auch für den Kanon der polnischen Literatur. Durch Homobiografie: pisarki i pisarze polscy XIX i XX wieku von Krzysztof Tomasik haben kanonischen polnischen Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts eine sexuelle Identität erhalten, die bisher unbekannt oder zumindest tabuisiert war.[27] Das Buch ist bisher nur auf Polnisch erhältlich, wird aber in seinen Eckdaten und Anliegen in Polish Literature in Transformation beschrieben.[28] Auch Tomasik hat auf bereits veröffentlichte Tagebücher und Briefe zurückgegriffen, das in diesen maskiert ausgedrückte homoerotische Begehren musste jedoch erst kulturell verarbeitet werden, um das offene Geheimnis ans Licht zu bringen.[29] Allerdings hat sich die Literaturkritik nach der Veröffentlichung des Buches größtenteils auf das Skandalöse und angeblich Sexuelle der Beschreibungen im Buch gestürzt.[30]Sogar für den russischen Nationalkanon gibt es erste Ansätze eines „Queering“. Nikol Gogol wird beschrieben als „one of the most harrowing cases of sexual self-repression to be found in the annals of literature.“[31] Auch wenn es in seinen Texten keine direkten Hinweise für seine Homosexualität gibt, finden Leser mit genügend Willenskraft Hinweise auf das geheime Begehren.[32] Beispielweise sind Angst vor der Ehe und vor sexuellem Kontakt mit Frauen wiederkehrende Motive in seinen Texten.[33] Und so soll der Schriftsteller aufgrund der Beichte bei einem Priester über seine Homosexualität den Freitod gewählt haben.[34] Tolstoi wiederum beschreibt in seinen autobiographischen Frühwerken Kindheit, Knabenalter und Jünglingsjahre seine physische Anziehung zu Männern, während er von Frauen aufgrund ihrer Persönlichkeit angezogen wird.[35] Zwar ist Homosexualität in seinen späteren Werken wie Anna Karenina negativ konnotiert, trotzdem sagt Simon Karlinsky: „The theme of homosexuality in the life of LEO TOLSTOY […] deserves a special study that will undoubtedly be written one day.“[36] Es handelt sich hier selbstverständlich lediglich um ein paar gezielte Beispiele und dementsprechend auch nur um zarte Ansätze, die zum Teil auch auf die gesellschaftlichen Umstände der jeweiligen Nation zurückzuführen sind. Die Forschungen haben also gerade begonnen, doch viele Literaturwissenschaftler sind sich ihrer Aufgabe immerhin bewusst und bereit sich ihr zu stellen.
[1] Vgl. Rushdie, Salman: The Empire Writes Back With a Vengence. In: Times vom 03.Juli 1982. S.8.
[2] Vgl. Miller, Madeline: The Song of Achilles. London: Bloomsbury, 2017.
[3] Copy, Jacket: First-time author Madeline Miller wins last-ever Orange Prize, unter: https://latimesblogs.latimes.com/jacketcopy/2012/05/first-time-author-madeline-miller-wins-last-ever-orange-prize.html (abgerufen: 21.05.2019).
[4] Vgl. Tóibín, Colm: Love in a Dark Time. 2003. S.6f.
[5] Vgl. Ebd. S.7.
[6] Vgl. Ebd.
[7] Vgl. Lorey, Christoph u. Plews, John L.: Defying Sights in German Literature and Culture: An Introduction to Queering the Canon. In: Queering the Canon. Defying Sights in German Literature and Culture. Hrsg. v. Christoph Lorey u. John L. Plews. Columbia: Camden House, 1998. (=Studies in German literature, linguistics, and culture). S.xix.
[8] Vgl. Kellog, Stuart.: Introduction. The Uses of Homosexuality in Literature. In: Essays on Gay Literature. 1985. S.2.
[9] Vgl. Warkocki, Blazej: Homobiographies and Gay Emancipation. In: Polish Literature in Transformation. Hrsg. v. Ursula Phillips. Münster: LIT Verlag, 2013. S.128.
[10] Vgl. Heede, Dag: A Gay History of Nordig Literature: Reflections of a Future Project. In: Rethinking National Literatures and the Literary Canon in Scandinavia. Hrsg. v. Ann-Sofie Lönngren, Heidi Grönstrand u.a. Cambridge: Cambridge Scholars Publishing, 2015. S.168.
[11] Vgl. Detering, Heinrich: Hans Christian Andersen. In: Frauenliebe, Männerliebe. 1997. S.1.
[12] Vgl. Ebd.
[13] Vgl. Ebd.
[14] Vgl. Schock, Alex: Die Bibliothek von Sodom. 1997. S.11.
[15] Vgl. Ebd.
[16] Vgl. Ebd.
[17] Andersen, Hans Christian: Der Schatten. In: Sämtliche Märchen in zwei Bänden. Hrsg v. Heinrich Detering. Erster Band. Vollständige Ausgabe. Aus dem Dänischen von Thyra Dohrenburg. Mit Illustrationen von Vilhelm Pedersen und Lorenz Frølich. Mit einem Nachwort, Anmerkungen, und einer Zeittafel. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2005. S.455.
[18] Vgl. Popp, Wolfgang: Männerliebe. 1992. S.354.
[19] Vgl. Ebd. S.355.
[20] Ebd.
[21] Vgl. Ebd.
[22] Vgl. Ebd. S.353.
[23] Detering, Heinrich: Ich wünschte, ich hätte Ihr ganzes Ich. Homoerotische Erfahrung und Textstruktur in Andersens „Der Schatten“. In: Forum Homosexualität und Literatur 9/1990, S.78.
[24] Vgl. Schock, Axek: Die Bibliothek von Sodom. 1997. S.11.
[25] Vgl. ebd. S.10.
[26] Vgl. Heede, Dag: A Gay History of Nordig Literature. In: Rethinking National Literatures and the Literary Canon in Scandinavia. 2015. S.160f.
[27] Vgl. Warkocki, Blazej: Homobiographies and Gay Emancipation. In: Polish Literature in Transformation. 2013. S. 127.
[28] Vgl. ebd. S.125-137.
[29] Vgl. Ebd. S.127f.
[30] Vgl. Ebd. S.127.
[31] Vgl. Karlinsky, Simon: Introduction. Russia’s Gay Literature and History. In: Out of the Blue. Russia’s Hidden Gay Literature. An Anthology. Hrsg. v. Kevin Moss. San Francisco: Gay Sunshine Press, 1997. S.19.
[32] Vgl. Tóibín, Colm: Love in a Dark Time. 2003. S.6f.
[33] Vgl. Karlinsky, Simon: Introduction. In: Out of the Blue. 1997. S.19.
[34] Vgl. Ebd.
[35] Vgl. Ebd. S.19f.
[36] Vgl. Ebd. Hervorhebung im Original.