Gunther Geltinger – Moor

Gunther Geltinger - Moor

Dion: Libellenjunge, Moorkind, Stotterer. Sprachlos ist er, unfähig sich der Wahrheit, den Erinnerungen mit Worten zu nähern. Und die Sprache, die er hat, kommt vom Moor. Dion ist stumm wie ein Tümpel, seine Worte gleichen einem Tröpfeln und Drippeln „wie in den verborgenen Rinnsalen der Schlenken, wo das Wasser steigt und fällt und doch nicht fließt.“ Und deswegen ist es auch nicht Dion, der seine Geschichte erzählt, es ist das Moor, das mit der Syntax der Natur für ihn und zu ihm spricht.

Das Moor spricht eine archaische wie poetische Sprache. Es ist ein Archiv der sagbaren und unsagbaren Dinge, der Erinnerungen und Mythen. Es erzählt von Fenndorf, dem kleinen Dorf zwischen Bremen und Hamburg, wo Dion mit seiner Mutter Marga wohnt, einem Gefängnis aus roten Klinkermauern und Schweineställen. Es erzählt von den Vorurteilen, der Ausgrenzung und dem Dorfschnack der Gemeinde, davon wie es Dions Vater an sich gerissen, ihn in seine Tiefen aufgenommen hat. Oder war es gar nicht das Moor, das ein Opfer verlangt hat? Vielleicht war es auch der eifersüchtige Bruder oder auch die der Lust anheimgefallene Mutter, die ihn ums Eck gebracht haben. Und das Moor spricht auch von all den Wörtern, die Dion nicht über die Lippen treten wollen. Von dem kantigen K, dem mit seinen Zacken drohendem Z und der Mundsperre M: Marga, Moor, Mutter.

Gunther Geltingers zweiter Roman Moor ist vor allem auch eine Geschichte über die Beziehung zwischen Dion und seiner Mutter, über abwesende Väter und über die gnadenlosen Urteile, die jene alleinerziehenden Mütter ausgesetzt sind: „Deine Mutter bringst du nicht hinter dich, bis zu ihrem Tod klebt ihre Liebe an dir und danach für den Rest deines Lebens der Groll, denn immer wird das, was sie für dich getan hat, zu viel oder zu wenig, Unterlassung oder Übergriff gewesen sein […].“

Auch Marga sucht nach einer Sprache, doch nie hat sie konkrete Form und selten eindeutige Farben. Denn Marga versucht über die Kunst, über Bilder sich ihrer Wahrheit zu nähern. Die Buchstaben verschwimmen vor ihren Augen und auch an der Kunst scheitert sie, die Bilder in ihrem Kopf vermag sie nicht auf eine Leinwand zu bannen, sie ist erfolglos. Ihre Liebe Dion gegenüber hat etwas Widerwilliges, denn sie wollte weder Mann noch Kind. Schon während ihrer Zeit in einem Hamburger Heim hat sie davon geträumt, Künstlerin zu sein. Nun kennen ihre Liebe und ihre Kunst nur ein Motiv: Dion.

Beide, Dion und Marga, sind Außenseiter. Das Dorf zerreißt sich das Maul über die alleinerziehende Mutter, von der ein jeder weiß, wie sie ihr Geld wirklich verdient, und auch über ihren stotternden Sonderling von einem Sohn, den es immer wieder in das Moor zieht, wo er die Libellen beim Schlüpfen beobachtet, dabei wie sie innerhalb eines einzigen Sommers sich auf die Suche nach dem besten Partner für ihren Nachwuchs begeben. Doch auch Dion ahnt, dass er ein Sonderling ist, dass er Tanja, das Mädchen mit den gläsernen Knochen, nur begehrt, weil ihr Blick auf den Bauernjungen Hannes gefallen ist.

Viele Jahre später schreibt Dion ein Buch über das Moor und die Grenzen überschreitende Liebe seiner Mutter ihm gegenüber. Ist es dieses Buch, das wir in den Händen halten? Oder ist der Versuch, sich der Vergangenheit zu stellen gescheitert, muss deswegen das Moor für Dion die Sprache ergreifen? Diese Frage muss offen bleiben und so ist Moor auch ein Buch über die Fehlbarkeit von Erinnerungen, das Gegenüberstellen von Perspektiven und das Scheitern der Sprache als Ausdruck unserer innersten Empfindungen.

Wie auch sein Nachfolgeroman Benzin vereint Moor kunstvoll die verschiedensten Motive und ist doch ganz eigen. Das Ringen um Sprache, Wasser als zeitliches Element, Autofiktion und das Gegenüberstellen von Subjekt und Natur. Gunther Geltingers Moor ist still und aufbrausend, eine Naturgewalt.

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